Folge 38

Dumpinglöhne / Lohnwucher



Durch die Aufweichung der Flächentarifverträge ist das Lohnniveau in diversen Branchen immer unterschiedlicher. Dies führt nicht nur zu einer Wettbewerbsverzerrung zwischen den einzelnen Unternehmern. Die
Frage ist auch, wann das Stadium des sittenwidrigen Lohnwuchers und der Dumpinglöhne erreicht ist.


Der Fall:

    Die ehrwürdige Elisabeth-Kirche soll nach Jahrhunderten renoviert und verschönert werden. Der dafür zuständige Landkomptur Graf Wittiko engagiert den arbeitslosen Kathedralenmaler Karl
    Bantzer dafür. Laut Arbeitsvertrag zahlt er ihm einen Stundenlohn von 9,50 DM brutto bei 60 Std. pro Woche. Die Malerkollegin Ida Kerkovius ist empört und spricht von Ausbeutung, da der durchschnittliche Lohn
    für Kathedralenmaler innerhalb der europäischen Union sich bei 20 Euro pro Stunde bewegt. Gleichwohl nimmt der arbeitslose Bantzer an, denn er muß Frau und 3 Kinder ernähren.

    Als der päpstliche
    Großinquisitor Konrad von Marburg von dieser Lohnabsprache hört, lädt er die Vertragsparteien, den Landkomptur Wittiko und den Maler Karl Bantzer vor sein Inquisitionsgericht. Er hält den Stundenlohn für viel zu
    niedrig und sittenwidrig. Er fordert den Landkomptur zur Lohnerhöhung auf. Dieser beruft sich auf den alten Rechtssatz: “pacta sunt servanda”. Er will nicht mehr zahlen.

    Wer hat recht?


Die Lösung:

1. Vertragsfreiheit

    Im bürgerlichen Recht und damit auch im Arbeitsrecht gilt der Grundsatz der Vertragsfreiheit. Dieser Grundsatz ist jedoch durch vielfältige Gesetze und Verfassungsgrundsätze
    eingeschränkt. LandKomptur Wittiko irrt daher, wenn er meint, daß er Lohnabsprachen treffen kann, wie er es für richtig hält.


2. Lohnwucher

    Wenn eine Vergütung zu niedrig angesetzt ist, dann kann im Einzelfall der Tatbestand des Lohnwuchers erfüllt sein. Lohnwucher führt stets zur Sittenwidrigkeit einer
    Vergütungsvereinbarung. Diese Vergütungsvereinbarung ist dann gem. § 139 BGB nichtig.

    Vom Fall des Lohnwuchers geht die Rechtsprechung dann aus, wenn ein auffälliges Mißverhältnis zwischen der Leistung des
    Arbeitnehmers und der Gegenleistung des Arbeitgebers vorhanden ist.

    Zur Frage des auffälligen Mißverhältnisses müssen allerdings die gesamten Umstände des Einzelfalles und insbesondere die Lohngrundsätze und
    Lohngebräuchlichkeiten der jeweiligen Branche zugrundegelegt werden.

    Es gibt einzelne Entscheidungen, die auch darauf abstellen, ob mit der Lohnvereinbarung das jeweilige Sozialhilfeniveau unterschritten
    wird. Dabei wird insbesondere darauf abgestellt, daß die Lohnabrede einer Familie einen angemessenen Lebensstandard zu sichern habe.

    Eine solche Vergleichsbetrachtung mit der jeweiligen Höhe der Sozialhilfe
    ist problematisch. Je nach Anzahl der Unterhaltsberechtigten wird die Sozialhilfe unterschiedlich zu bemessen sein. Zum anderen berücksichtigt diese Betrachtungsweise nicht ausreichend die Gegebenheit der
    jeweiligen Branche.

    Bei der Betrachtung nach Sozialhilfegrundsätzen muß außerdem festgestellt werden, daß in verschiedenen Tarifbereichen die unteren Lohngruppen dann z.T. bereits auf Sozialhilfeniveau oder
    unter Sozialhilfeniveau liegen und sittenwidrig sein könnten. Diese Betrachtungsweise gerät in Konflikt mit der grundgesetzlich gesicherten Tarifautonomie. Eine solche Betrachtungsweise ist deshalb
    problematisch. Dies gilt auch deshalb, weil die unterschiedliche Wochenarbeitszeit einschließlich der Teilzeitproblematik zu unterschiedlichen Lohnhöhen bei gleichem Stundenlohn führen kann. Im übrigen könnte
    der Kathedralenmaler Karl Bantzer bei einem Gesamteinkommen unter Sozialhilfeniveau aufgrund seiner Unterhaltsverpflichtungen ggf. ergänzende Sozialhilfe beantragen.


3. Strafbarer Lohnwucher nach BGH

    Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat einen strafbaren Lohnwucher bereits dann als gegeben betrachtet, wenn ein auffälliges Mißverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung
    besteht. Ein solches Mißverhältnis soll schon dann vorliegen, wenn der Tariflohn um 1/3 unterschritten ist.

    Da laut Ida Kerkovius der Durchschnittslohn EU-weit bei 20 Euro liegen soll, müßte Landkomptur
    Wittiko sich auf ein Strafverfahren bei Großinquisitor Konrad von Marburg, wenn er nicht einsichtig wird.


4. Lohnwucher nach BAG

    Auch das Bundesarbeitsgericht sieht den Fall des Lohnwuchers dann gegeben, wenn ein auffälliges Mißverhältnis hinsichtlich der Lohnhöhe einerseits und der Arbeitsleistung andererseits
    vorliegt. Allerdings muß nach der Rechtsprechung des BAG in aller Regel auf die Gesamtumstände abgestellt werden, also auch auf den Schwierigkeitsgrad und die Dauer der Arbeit, auf die körperliche und die
    geistige Beanspruchung und die Arbeitsbedingungen schlechthin (Hitze, Kälte, Lärm etc.).

    Nach BAG ist allerdings nicht der Nutzen der Arbeit für den Unternehmer für die Lohnhöhe ausschlaggebend. Beim
    Lohnvergleich soll einerseits ein Vergleich mit den Tariflöhnen des jeweiligen Wirtschaftszweigs angestellt werden. Andererseits müsse aber auch vom allgemeinen Lohnniveau im Wirtschaftsgebiet und
    Wirtschaftszweig ausgegangen werden.

    Anders als der BGH stellt das BAG nicht entscheidend bzw. alleine auf den Tariflohn ab. Allerdings hat das BAG in Einzelfallentscheidungen aufgrund dieser allgemeinen
    Kriterien z.B. auch schon eine Ausbildungsvergütung von ca. 20 % der tariflichen Ausbildungsvergütung als sittenwidrig angesehen.

    Tariflöhne für Kathedralenmaler gibt es nicht. Abstellend auf den Gewerbezweig
    und das Wirtschaftsgebiet muß allerdings festgestellt werden, daß der Stundenlohn von Karl Bantzer deutlich unter 50 % des üblichen Stundenlohnes von Kathedralenmalern liegt. Damit steht fest, daß die fragliche
    Vereinbarung von Landkomptur Graf Wittiko mit dem Kathedralenmaler sittenwidrig ist.

    Großinquisitor Konrad von Marburg hat recht. Landkomptur Wittiko muß das Inquisitionsgericht fürchten.


5. Gemeinnützige Arbeit

    Etwas anderes gilt, wenn gemeinnützige Arbeit nach § 19 BFHG abgeleistet wird. Wäre der Maler Bantzer Sozialhilfeempfänger gewesen, so hätte er ggf. im Rahmen der gemeinnützigen Arbeit
    mit einem Hinzuverdienst von 2 DM pro Stunde an der Renovierung der Elisabeth-Kirche beschäftigt werden können. Hier hätte aber ein anderer Fall vorgelegen, nämlich keine freie Vertragsvereinbarung.


6. Teilnichtigkeit

    Landkomptur Wittiko meint nun, daß bei einer Nichtigkeit der Lohnvereinbarung wegen Sittenwidrigkeit überhaupt kein Vertrag vorliege und gar nichts gezahlt werden müsse.

    Großinquisitor Konrad platzt vor Wut. Die Teilnichtigkeit führt nämlich nicht dazu, daß der Lohnanspruch entfällt. Vielmehr muß Landkomptur Wittiko dem Kathedralenmaler Bantzer den verkehrsüblichen Lohn nach §
    612 BGB, d.h. den Stundenlohn von 20 Euro nachzahlen.

    Dies bedeutet im Ergebnis, daß bei Lohnwucher die sittenwidrige Vereinbarung nicht belohnt wird.


7. Checkliste

  • Vergütungshöhe verglichen mit

    a) der einschlägigen Tarifvergütung

    b) der regional üblichen Branchenvergütung
  • erhebliche Abweichung nach oben: unproblematisch
  • erhebliche Abweichung nach unten: wie viel? mehr als 25 %?
  • Gefahr: Sittenwidrigkeit / Lohnwucher
  • Lohnwucher: Strafbarkeit. Arbeitgeber / Personalleiter vorbestraft
  • Sittenwidrigkeit: Arbeitgeber muß die regional branchenübliche Vergütung nachzahlen

Textübernahmen aus den Arbeitsrechtsfolgen von Hans Gottlob Rühle:
Reine
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