Folge 343

Annahmeverzug II


Frage:

Wenn ich gekündigt bin, weil mein Arbeitgeber keine Arbeit für mich hat, bin ich dann verpflichtet, in der Kündigungsfrist oder danach eine andere, auch geringwertigere Arbeit anzunehmen? Wenn ich den Kündigungsschutzprozess gewinne, muss mir dann der Arbeitgeber den gesamten Lohn nachzahlen oder darf er mir das verrechnen, was ich durch andere Arbeit verdient habe oder hätte verdienen können?


Der Fall:

Spediteur Edmund Hillary will das Mount Everest Base Camp mit Nahrungsmitteln und alpiner Literatur versorgen. In der Hoffnung auf die neu gebaute Straße stellt er den brotlosen Schriftsteller Uwe Johnson als
Kraftfahrer ein.

Nachdem der Bauunternehmer Francesco Petrarca erfolgreich eine Straße auf den provencalischen Olymp Mont Ventoux gebaut hatte, baut er jetzt auch die neue Straße zum Mount Everest Base Camp.
Wegen des legendären Fleißes der Deutschen stellte er den Straßenarbeiter Max Liebermann ein. Doch statt Schotter auf die Piste aufzubringen, malt Liebermann lieber berauscht die phantastischen Himalaya-Szenen in Öl. Petrarca kündigt deshalb Liebermann.

Da Liebermann vor dem Arbeitsgericht Kathmandu klagt, bietet Petrarca ihm nach Ablauf der Kündigungsfrist eine Prozessbeschäftigung als Straßenarbeiter für die Dauer des Kündigungsschutzprozesses an. Liebermann malt trotzdem lieber Bilder und verkauft diese, da er meint, als Impressionist damit mehr Geld verdienen zu können, als im Straßenbau.

Als Liebermann den Prozess gewinnt und von Petrarca den Lohn nachgezahlt haben wollte, verrechnet Petrarca aber die hohen Maleinkünfte mit dem bei Annahme der Arbeit erzielbaren Arbeitslohn und verweigert jede Zahlung. Liebermann ist irritiert.

Da der Straßenbau nicht vorankommt und der einzige LKW von Sir Hillary von räuberischen Sherpas gestohlen wurde, spricht Hillary dem Kraftfahrer Uwe Johnson eine Änderungskündigung aus und bietet ihm statt einer Beendigung des Arbeitsverhältnissen an, als Lagerarbeiter zu gleichem Lohn in Kathmandu weiterzuarbeiten. Mangels Straße und LKW sollte Johnson bereits aber bereits in der Kündigungsfrist von 2 Wochen im Lager arbeiten.

Das verweigert Uwe Johnson. Er besteht darauf, dass er in der Kündigungsfrist als LKW-Fahrer eingesetzt wird. Andernfalls sitzt er
lieber träumend am Durbar Place in Katmandu und schreibt nepalesische Kurzgeschichten. Als Johnson für die Kündigungsfrist Lohn verlangt, um sich während des Geschichtenschreibens den Magen mit Hühner-Curry zu
füllen, verweigert Sir Hillary die Lohnzahlung. Zu Recht?


Die Lösung:


3. Annahmeverzug

Der Arbeitgeber gerät nach § 615 BGB in Annahmeverzug und muss den vertraglich vereinbarten Lohn bezahlen, wenn

– ein erfüllbares Arbeitsverhältnis vorliegt,

– der Arbeitnehmer seine Dienste oder seine Arbeitsleistung angeboten hat,

– die Leistung der Arbeit im Zeitpunkt des Angebots für den Arbeitnehmer möglich ist und

– der Arbeitgeber die Arbeit nicht annimmt.

a. Tatsächliches, körperliches Arbeitsangebot

Für das Arbeitsangebot gilt, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung zur rechten Zeit, am rechten Ort und in der rechten Weise anbieten muss. Er muss in der Regel sich an der Arbeitsstelle einfinden und seine Arbeitsleistung konkret anbieten.

b. Wörtliches Angebot

Ein wörtliches Angebot der Arbeitsleistung reicht aus, wenn der Arbeitgeber ihm vorher erklärt hat, dass er die Arbeitsleistung nicht annehmen werde („Hau ab“), oder wenn zur Arbeitsleistung eine Mitwirkungshandlung des Arbeitgebers erforderlich ist (z.B. Abholen zur Baustelle). Eine Ablehnung der Arbeitsleistung liegt insbesondere im Falle einer Kündigung vor, wenn die Kündigungsfrist abgelaufen ist. Hier reicht es, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung wörtlich oder durch Erhebung der Kündigungsschutzklage anbietet.

c. Keine Pflicht zum Arbeitsangebot

Ein wörtliches Angebot ist schließlich überflüssig, wenn dem
Arbeitnehmer das Angebot nicht zumutbar ist. Dies ist dann der Fall, wenn der Arbeitgeber unmissverständlich erklärt, dass er in keinem Falle die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers noch annehmen werde, z.B. im
Falle der fristlosen Kündigung, eines Hausverbotes etc.

d. Rechtsfolgen des Annahmeverzugs

Die Rechtsfolge des Annahmeverzugs besteht darin, dass der Arbeitnehmer einerseits von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung frei wird. Er muss die Arbeitsleistung nicht später nachholen. Zum anderen kann der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber die vereinbarte Vergütung verlangen.

Achtung: Allerdings muss sich der Arbeitnehmer nach § 615 Satz 2 BGB auf seinen Lohnanspruch den Wert dessen anrechnen lassen, was er durch eine anderweitige Verwertung seiner Arbeitsleistung erwirbt, was er durch das Unterlassen der Arbeitsleistung erspart hat oder was er im Falle des böswilligen Unterlassens einer Arbeitsmöglichkeit oder eines Arbeitsangebotes hätte erwerben können. Dies wird miteinander verrechnet.

Für die Fälle nach Ausspruch der Kündigung besteht für die Anrechnung
anderweitigen Erwerbes die besondere Vorschrift des § 11 KSchG, die aber insoweit inhaltsgleich ist.

e. Arbeitslosengeld/Hartz IV

Abzuziehen von dem Verzugslohn sind auch öffentlich-rechtliche Leistungen infolge von Arbeitslosigkeit aus Sozialversicherung, Arbeitslosenversicherung etc. Insoweit besteht ein gesetzlicher Forderungsübergang. Der Arbeitgeber muss den Lohn in Höhe dieser Drittleistungen an den öffentlichen Geldgeber, z.B. an die Arbeitsagentur statt an den Arbeitnehmer direkt abführen.


4. Böswilliges Unterlassen

Der Arbeitgeber, der in Annahmeverzug ist, muss den vollen Lohn nachzahlen. Er darf aber anrechnen, was der Arbeitnehmer durch anderweitige Verwertung seiner Arbeitskraft erwirbt oder von der Sozialversicherung bekommt.

Achtung: Es nützt dem Arbeitnehmer aber nichts, wenn er die Hände in den Schoß legt und dem Nichtstun frönt. Der Arbeitnehmer ist vielmehr verpflichtet, jeden zumutbaren anderweitigen Erwerb zu tätigen. Es
handelt sich hierbei um eine Art „Schadensminderungspflicht“.

Deshalb darf der Arbeitgeber bei der Verrechnung das berücksichtigen, was der Arbeitnehmer verdient hätte, wenn der Arbeitnehmer es nicht
böswillig unterlassen hätte, einer Arbeit nachzugehen. Böswillig in diesem Sinne handelt der Arbeitnehmer, der in Kenntnis der schädigenden Folge untätig bleibt, obwohl ihm die Tätigkeit ohne weiteres zumutbar
ist.

Böswillig handelt in diesem Sinne z.B. auch ein Arbeitnehmer, der es ablehnt, während des Verzuges des Arbeitgebers zu einem geringeren Stundenlohn zu arbeiten. In einem solchen Fall muß der Arbeitgeber
lediglich den Unterschiedsbetrag zwischen dem geringeren Lohn und dem geschuldeten Lohn als Annahmeverzug bezahlen.

Voraussetzung ist, daß der Arbeitnehmer die konkrete Möglichkeit hatte, einen anderweitigen Verdienst zu erzielen. Dafür ist im Streitfall der Arbeitgeber beweispflichtig.


5. Prozessbeschäftigung

Der Arbeitgeber Francesco Petrarca ist verpflichtet, den Arbeitnehmer Liebermann während der Kündigungsfrist vertragsgemäß zu beschäftigen und entsprechend zu bezahlen.

Nach Ablauf der Kündigungsfrist besteht keine Beschäftigungspflicht mehr. Der Arbeitgeber kann aber dem Arbeitnehmer für die Dauer des Kündigungsschutzprozesses anbieten, mit der bisherigen Arbeit oder auch einer anderen Arbeit bei ihm im Betrieb weiterzuarbeiten. Dies nennt die Fachwelt eine „Prozessbeschäftigung“.

Achtung: Es empfiehlt sich dringend, für die Zeit der Prozessbeschäftigung eine schriftliche Vereinbarung abzuschließen. In dieser Vereinbarung wird einerseits die Tätigkeit und Vergütung vereinbart, andererseits muss der Endzeitpunkt kalendermäßig oder als auflösende Bedingung festgelegt werden.

Der Arbeitgeber kann die im Prozessbeschäftigungsverhältnis gezahlte Vergütung mit dem Lohn verrechnen, den er zahlen muss, falls er den Prozess verliert. Damit mindert er sein Prozess- und Schadensrisiko.

Lehnt der Arbeitnehmer diese Prozessbeschäftigung ab, so kann es sich um ein böswillige Unterlassen handeln, wenn die Prozessbeschäftigung dem Arbeitnehmer möglich und zumutbar war. Der fiktive Lohn, den er erzielen hätte können, wird ihm dann bei einem späteren Obsiegen in der
Kündigungsschutzklage von den Lohnansprüchen abgezogen, die bis zum Ausspruch des obsiegenden Urteil entstanden sind.

Dies gilt vor allem dann, wenn der Arbeitgeber ihm eine vertragsgemäße Arbeit angeboten hat und der Arbeitnehmer keinen triftigen Grund hatte, diese abzulehnen. Hat er statt dessen eine andere Arbeit durchgeführt und anderweitige Einkünfte erzielt, so darf der Arbeitgeber diese Einkünfte mit dem Arbeitslohn verrechnen.

Sollte Max Liebermann im Kündigungsschutzprozess gegen Petrarca obsiegen und Annahmeverzugslohn verlangen, so muss Liebermann dem Petrarca seine gesamten Einkünfte durch seine Malerei im fraglichen Zeitraum angeben. Petrarca darf diese mit dem Annahmeverzugslohn verrechnen.

Sofern Petrarca eine Prozessbeschäftigung mit der vertraglichen Vergütung angeboten hat und Max Liebermann dies ablehnte, braucht Petrarca keinen Annahmeverzugslohn zahlen. Max Liebermann hätte dann diese neue Tätigkeit böswillig abgelehnt, sofern es sich um eine zumutbare Tätigkeit handelte.

6. Lösung

a. Liebermann

Max Liebermann lieferte durch seine Arbeitsverweigerung einen Kündigungsgrund. Obwohl Arbeitgeber Petrarca gute Prozessaussichten hatte, bot er ihm eine Prozessbeschäftigung an. Diese Tätigkeit war Liebermann zumutbar. Gleichwohl lehnte er sie ab, um weiter Bilder zu malen.

Es liegt hier ein böswilliges Unterlassen der Arbeitsleistung vor. Nach § 615 Satz 2 BGB ist der Arbeitgeber Petrarca schon deshalb nicht zur Lohnzahlung verpflichtet, falls er wider Erwarten den Prozess verlieren sollte.

Außerdem darf er nach § 615 BGB den von Liebermann während der Prozessdauer erzielten Mal-Einkünfte mit einem etwaigen Lohnanspruch verrechnen.

Liebermann geht deshalb zu Unrecht davon aus, dass er noch Lohnansprüche besitzt.

b. Uwe Johnson

Johnson hat recht, wenn er auf den Arbeitsvertrag verweist. Er ist als Fahrer eingestellt, nicht als Lagerarbeiter. Das unternehmerische Risiko von Sir Hillary wegen des Straßenbaus hat er nicht zu tragen.

Allerdings kann der Arbeitgeber im Rahmen der allgemeinen vertraglichen Verpflichtung zur gegenseitigen Rücksicht nach §241 Absatz 2 BGB vom Arbeitnehmer verlangen, dass er im zumutbaren Rahmen auch die berechtigten Interessen und Rechtsgüter des Arbeitgebers berücksichtigt.

Hier geriet Sir Hillary ohne eigens Verschulden in einer unglücklichen Verkettung der Umstände in eine Zwangslage. Nach Abwägung der gegenseitigen Interessen konnte von Uwe Johnson für die ohnehin überschaubare Kündigungsfrist verlangt werden, auf die berechtigten Belange des Arbeitgebers Rücksicht zu nehmen. Das hat er nicht getan. Wenn ihm die Arbeit im Lager auch als Kraftfahrer für kurze Zeit zumutbar war, dann darf ihm Sir Hillary die Lohnzahlung verweigern.

Textübernahmen aus den Arbeitsrechtsfolgen von Hans Gottlob Rühle:
Reine
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