Folge 338

Schutz der behinderten Menschen IX


Frage:

Ich bin bei der Einstellung abgelehnt worden, als der Arbeitgeber erfuhr, daß ich Schwerbehindert bin. Oder: Nur wegen meiner Schwerbehinderung bin ich nicht befördert worden. Habe ich Anspruch auf Schadenersatz?

Selbst wenn ich nie eine Chance zur Einstellung gehabt hätte? Ich bin tatsächlich tief getroffen und in meinem Persönlichkeitsrecht verletzt, weil mich der Arbeitgeber mit der Begründung ablehnte, Schwerbehinderte wolle er nicht in seinem Laden. Muss ich mir das gefallen lassen?

Der Fall:

Der schnittige Arbeitgeber Simon Bolivar betreibt ein Sicherheitsunternehmen. Er überwacht nicht nur die Rum-Destillen und Zigarrenfabriken Kubas, sondern neuerdings auch den Nord-Ostsee-Kanal und die neuen Gasförderplattformen im Wattenmeer vor der Insel Borkum.

Der bei Bolivar seit Jahrzehnten auf Kuba beschäftigte Wachmann Gustav Heinemann hat sich für das neue Projekt in Niedersachsen als Vorarbeiter und Niederlassungsleiter auf einer Gasförderplattform beworben. Er will zurück in die alte Heimat. Der schneidige Bolivar lehnt jedoch eine Beförderung des von Gicht gekrümmten Heinemanns ab und begründet dies mit dem Alter und den gichtigen Fingern und Gliedern von Heinemann. Der von Krankheit gebeugte Heinemann findet diese Behandlung unfair und fragt sich, ob er Schadenersatz verlangen kann.

Für die neuen Projekte braucht Simon Bolivar dringend neue Mitarbeiter. Der durch lange Festungshaft gesundheitlich ruinierte Alexandre Dumas bewirbt sich. Bolivar lehnt ihn mit der Begründung ab, Schwerbehinderte und Krüppel könnte er schon in Kuba nicht gebrauchen, noch weniger aber jetzt im rauen Norden.

Der Revolverheld Edward Hopper hätte gute Chancen im Sicherheitsapparat von Bolivar. Der Vertrag war quasi perfekt. Als Bolivar aber von den Prostataproblemen Hoppers erfuhr, von dessen Schwerbehinderung und davon, dass Hopper ein Dauer-Pampers-Träger ist, wirft Bolivar den Hopper wieder raus. Pampers-Träger kann Bolivar weder am Kanal und noch weniger auf den Förderplattformen gebrauchen.

Dumas und Hopper sinnen auf Rache. Sie wollen wie Heinemann wenigstens Schadenersatz. Zu Recht?


Die Lösung:


1. Schadenersatzpflicht

Die Europäischen Richtlinien verbieten seit Jahren die Benachteiligung von schwerbehinderten Menschen wie auch von sonstigen behinderten Menschen wegen ihrer Behinderung. Der Europäische Gesetzgeber fordert von den Nationalstaaten neue Gesetze, nach denen alle diskriminierenden Personen oder Unternehmen mit empfindlichen und wirksamen Schadenersatzpflichten belegt werden müssen.

Auch der deutsche Gesetzgeber hat dies umgesetzt. Zunächst in § 164 SGB IX. Mittlerweile hat der Gesetzgeber die Schadenersatzregelungen wegen Diskriminierung aus verschiedenen Gründen im allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zusammengefasst. § 15 Abs. 1 und Abs. 2 AGG regelt die Schadenersatzpflicht und eine spezielle Entschädigungspflicht. Um die Durchsetzungskraft zu erhöhen regelt § 22 AGG eine neue Beweislastverteilung zu Lasten des Arbeitgebers, eine Art besonderer Beweislastumkehr.


2. Schadenersatzpflicht des Arbeitgebers, § 15 Abs. 1 AGG

Bei Verstoß gegen das Benachteiligungs- und Diskriminierungsverbot ist der Arbeitgeber nach § 15 Abs. 1 AGG verpflichtet, den hierdurch entstandenen Schaden der diskriminierten Person zu ersetzen. Eine
Schadenersatzpflicht besteht dann nicht, wenn der Arbeitgeber die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat.

Achtung: Für diesen Schadenersatzanspruch kommt es nicht darauf an, welche Person gegen das Diskriminierungsverbot verstoßen hat, ob der Arbeitgeber selbst, einer seiner Mitarbeiter und Betriebsangehörigen oder betriebsfremde dritte Personen. Entscheidend ist nur, ob der Arbeitgeber eine vertragswidrige und gesetzeswidrige Diskriminierung zu vertreten hat.


3. Vertreten Müssen/Verschulden

Sowohl nach Europarecht wie auch nach deutschen Recht können die diskriminierten Mitarbeiter und Bewerber Heinemann, Dumas und Hopper vom Bewachungsunternehmer Bolivar nur dann Schadenersatz fordern, wenn dieser für die Diskriminierung auch verantwortlich ist im Sinne eines Verschuldens.

Nach § 276 BGB hat Bolivar ein schuldhaftes Handeln, nämlich Vorsatz, grobe Fahrlässigkeit und sogar schon Diskriminierungen auf Grund von normaler, einfacher Fahrlässigkeit zu vertreten.

Für die Haftung des Arbeitgebers spielt es keine Rolle, ob die Diskriminierung durch aktives Tun des Arbeitgebers, seiner Mitarbeiter etc. begangen wurde, oder durch Unterlassen. Gerade auch bei Unterlassen kann schnell ein Haftungstatbestand im Bereich der Diskriminierung entstehen.

Der Arbeitgeber hat seinen Betrieb so zu organisieren, daß von diesem Betrieb aus keine rechtswidrigen Handlungen, auch keine
Diskriminierungen ausgehen. Macht er das nicht, muß ihm ein Organisationsverschulden vorgeworfen werden.

Deshalb haftet der Arbeitgeber nicht nur dann, wenn er selbst die Diskriminierung begangen hat, sondern auch dann, wenn Mitarbeiter des Arbeitgebers als Verrichtungsgehilfen diese Diskriminierung begehen.

Zudem haftet er auch für Fremdverschulden, wenn dritte Personen als Erfüllungsgehilfen für ihn tätig wurden und Diskriminierungen begangen haben.

Beispiel: Beauftragt Arbeitgeber Bolivar bei der Mitarbeitersuche „Headhunter“, Beschäftigungsagenturen, die Arbeitsagentur, das Kreisjobcenter etc., so muss er nach der Rechtsprechung darauf achten, dass diese „Erfüllungsgehilfen“ bei der Auswahl von Mitarbeitern nicht diskriminierend tätig werden.

Nach der Gesetzeskonstruktion muss der Arbeitgeber im Falle einer
Diskriminierung in diesen Konstellationen generell haften. Meint er für diese Diskriminierung nicht verantwortlich zu sein, alles in seiner Macht stehende getan zu haben, so muß er dies im Zweifel beweisen.


4. Umfang des Schadenersatzes

Der Gesetzgeber hat zur Höhe des Schadenersatzes nichts geregelt. Grundsätzlich ist der gesamte entstandene finanzielle und materielle Schaden zu ersetzen.

Nach der „Differenzlehre“ kann der Schaden darin bestehen, dass der Benachteiligte so zu stellen ist wie er stünde, wenn es die verbotene Benachteiligung nicht gegeben hätte.

Dies bedeutet den Ersatz des Verdienstausfalls. Die Frage ist nur, für wie lange. Bleibt ein Bewerber arbeitslos, muss dann der Arbeitgeber über Jahre hin den Verdienstausfall ersetzen?

Dies könnte dem Arbeitgeber viele Jahresgehälter kosten. Eine solch hohe Schadenersatzverpflichtung des Arbeitgebers erscheint jedoch unverhältnismäßig und letztlich vom Gesetzgeber nicht gewollt.

Andererseits hat der Gesetzgeber keine Obergrenze geschaffen. Die Rechtsprechung muss deshalb eine solche Obergrenze
finden.

Mehr dazu in der nächsten Folge.

Textübernahmen aus den Arbeitsrechtsfolgen von Hans Gottlob Rühle:
Reine
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