Frage:
Wenn ich schwerbehindert bin und meine Behinderung schreitet fort, so dass ich meine bisherige Arbeit nicht mehr verrichten
kann, muss mich dann der Arbeitgeber mit einer anderen Tätigkeit beschäftigen? Wenn ich einen Unfall erleide mit bleibenden Schädigungen, kann ich dann verlangen, dass ich im Betrieb umgesetzt werde auf einen
leidensgerechten Arbeitsplatz?
Kann der Arbeitgeber einwenden, dass er keine zumutbare und mögliche Beschäftigung im Betrieb besitzt? Muss er einen anderen Arbeitsplatz wegen mir freiräumen?
Der Fall:
Arbeitgeber Gustav Mahler beschäftigt im Maschinensaal den Vorarbeiter Philipp Scheidemann. Nachdem dieser seine revolutionäre Politikertätigkeit beendet hatte, fand er bei Mahler eine Anstellung. Wegen seines Rede-Talents muss er die Maschinenarbeiter beaufsichtigen und an ihren Arbeitsplätzen die Arbeit zuteilen.
Im Rahmen eines Verkehrsunfalls erlitt Scheidemann schwere dauerhafte Verletzungen. Er ist als schwerbehindert anerkannt. Er kann aber nicht mehr stehen und hin und her gehen.
Zunächst verlangt Scheidemann von Gustav Mahler eine stufenweise Eingliederung. Zum anderen schlägt er vor, ihm eine andere Arbeit, z.B. im Büro zuzuteilen. Gustav Mahler zögert und meint, dass Scheidemann darauf keinen Anspruch habe.
Die Lösung:
1. Gesetzlicher Behindertenschutz
Nach § 164 Abs. 4 Ziff. 1 SGB IX haben schwerbehinderte Arbeitnehmer gegenüber ihrem Arbeitgeber Anspruch auf Beschäftigungen, bei der sie ihre Fähigkeiten und Kenntnisse möglichst voll verwerten und weiterentwickeln können. Dies ist die zentrale Vorschrift, die den Arbeitgeber auch zwingen soll, dem schwerbehinderten
Mitarbeiter einen leidensgerechten und angemessenen Arbeitsplatz zu geben.
2. Kein Anspruch auf bestimmten Arbeitsplatz
Das Schwerbehindertenrecht räumt dem Arbeitnehmer keinen Anspruch auf einen bestimmten Arbeitsplatz ein. Es ist deshalb nicht ratsam, dass der schwerbehinderte Mitarbeiter sich auf einen ganz bestimmten Arbeitsplatz versteift, den er bei Eintritt seiner Behinderung oder bei einer Verschlechterung haben möchte. Generell ist der Arbeitgeber berechtigt, im Rahmen der Zumutbarkeit ihm einen behindertengerechten Arbeitsplatz seiner Wahl zuzuweisen.
3. Anspruch auf Vertragsänderung
Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (Urteil vom 10.5.2005 – 9 AZR 230/04) folgt aus der Vorschrift des § 164 Abs. 4 Ziff. 1 SGB IX der Anspruch des schwerbehinderten Mitarbeiters gegen den Arbeitgeber auf eine Beschäftigung, die den Fähigkeiten des Mitarbeiters entspricht.
Der Arbeitgeber erfüllt diesen Anspruch i.d.R. dadurch, dass er den Mitarbeitern die im Arbeitsvertrag vereinbarte Arbeit zuweist. Kann jedoch der schwerbehinderte Mitarbeiter wegen seiner Behinderung diese vertraglichen Tätigkeiten nicht mehr wahrnehmen, so führt diese Einschränkung in der Befähigung des Mitarbeiters nicht automatisch zum Wegfall des Beschäftigungsanspruches.
Der schwerbehinderte Mitarbeiter kann vielmehr nach der
BAG-Rechtsprechung einen Anspruch auf eine anderweitige Beschäftigung haben, soweit diese andere Beschäftigung mit der vertraglich vereinbarten Tätigkeit übereinstimmt.
Soweit dies nicht der Fall ist, hat er ggf. einen Anspruch auf eine entsprechende Vertragsänderung. Dieser besondere Beschäftigungsanspruch entsteht unmittelbar kraft Gesetzes und kann ohne vorherige Vertragsänderung geltend gemacht werden.
Soweit zu einer veränderten Tätigkeit die Zustimmung des Betriebsrats erforderlich ist, ist der Arbeitgeber verpflichtet, dessen Zustimmung einzuholen.
4. Kein absoluter Anspruch auf Beschäftigung
Mit dem Gesetz wird dem schwerbehinderten Arbeitnehmer jedoch kein absoluter Anspruch auf Beschäftigung eingeräumt. Es ist
immer erforderlich, dass der Arbeitnehmer aufgrund seiner Fähigkeiten und Kenntnisse in der Lage ist, eine andere Tätigkeit auch tatsächlich auszuüben.
Außerdem ergibt sich aus der Regelung des § 164 Abs. 4 Satz
3 SGB IX, dass die neue Beschäftigung dem Arbeitgeber zumutbar sein muss und nicht mit unverhältnismäßigen Aufwendungen verbunden sein darf.
So ist der Arbeitgeber z.B. nicht verpflichtet, für den
schwerbehinderten Mitarbeiter einen neuen, zusätzlichen Arbeitsplatz einzurichten.
5. Unzumutbare Weiterbeschäftigung
Zunächst muss sich der Arbeitgeber nach dem Gesetz darum bemühen, dem Mitarbeiter eine behinderungsgerechte Beschäftigung
zu verschaffen. Er kann nicht nur behaupten, er verfüge über keinen geeigneten Arbeitsplatz. Er muss zunächst mit dem Mitarbeiter, der Schwerbehindertenvertretung, dem Betriebsrat/Personalrat die Lage ernsthaft und eingehend prüfen.
Findet er gleichwohl keine Beschäftigungsmöglichkeit, so erfordert es die gebotene sachliche Auseinandersetzung mit dem Beschäftigungsverlangen des Schwerbehinderten, dass der Arbeitgeber substantiiert darlegt, aus welchen Gründen die vom Arbeitnehmer vorgeschlagenen Beschäftigungsmöglichkeiten nicht in Betracht kommen.
Der Arbeitgeber hat im Zweifel den umfassenden Überblick über die
betrieblichen Arbeitsplätze und die dort zu erfüllenden Anforderungen. Aus diesem Grunde muss er darlegen, welche Arbeitsplätze mit welchem Anforderungsprofil versehen sind, für welche Zeiträume diese
Arbeitsplätze besetzt sind, ob Arbeitsaufgaben sinnvoll anderweitig verteilt werden können, oder Arbeitsplätze in absehbarer Zeit frei werden.
6. Fazit
Der schwerbehinderte Mensch hat nach Gesetz und Rechtsprechung Anspruch auf behinderungsgerechte Beschäftigung. Zur Begründung dieses Anspruches hat er regelmäßig bereits dann schlüssig vorgetragen, wenn er die Beschäftigungsmöglichkeiten aufzeigt, die seinem infolge der Behinderung eingeschränktem Leistungsvermögen und seinen Kenntnissen und Fähigkeiten entsprechen.
Der Arbeitgeber hat sich hierauf substantiiert einzulassen und die Tatsachen vorzutragen, aus denen sich ergibt, dass solche behinderungsrechte
Beschäftigungsmöglichkeiten nicht bestehen bzw. ihm die Zuweisung einer solchen Beschäftigung unzumutbar ist.
Dazu kann auch die Darlegung gehören, dass ein entsprechender freier Arbeitsplatz nicht vorhanden ist und durch Versetzung auch nicht freigemacht werden kann. Der Arbeitgeber hat keine Pflicht, einen Arbeitsplatz frei zu kündigen! Allerdings muss er im Rahmen seines vertraglichen Direktionsrechts alles versuchen, die leidensgerechte Beschäftigung des Mitarbeiters zu ermöglichen.
Eine Unzumutbarkeit der Beschäftigung des Arbeitnehmers muss der Arbeitgeber generell darlegen, begründen und auch beweisen.
Zu einer solchen behinderungsgerechten Arbeit gehört nach der Rechtsprechung auch der Anspruch des Behinderten auf eine stufenweise Wiedereingliederung in die vertraglich geschuldete Tätigkeit oder in eine neue behinderungsgerechte Tätigkeit.