Frage:
Darf ich als behinderter Bewerber benachteiligt werden, wenn ich mich für eine bestimmte Stelle interessiere oder befördert werden will? Auf welchen Gebieten muss der Arbeitgeber den Behindertenschutz berücksichtigen, nur bei der Einstellung oder auch bei einer Versetzung oder bei einer Kündigung?
Kann ich notfalls den Betriebsrat oder die Arbeitsagentur einschalten? Muss der Arbeitgeber die Gremien wie Betriebsrat oder Schwerbehindertenvertretung beteiligen und wo?
Der Fall:
Der gottesfürchtige und partiell gesetzestreue Arbeitgeber Johannes Calvinus will in seinem Betrieb möglichst Diskriminierungen vermeiden und behinderte Mitarbeiter und Bewerber nicht benachteiligen. Er fragt sich, für welche Gebiete der Diskriminierungsschutz gesetzlich vorgesehen ist.
Der schwerbehinderte Bewerber Giorgio de Chirico wird vom Arbeitgeber Johannes Calvinus nicht berücksichtigt. Ein nicht behinderter Bewerber erhält den Vorzug. Giorgio de Chirico erhält seine Bewerbungsunterlagen zurück.
Der Leiter der Arbeitsagentur Ludwig Ganghofer beschwert sich, dass er bei der Neubesetzung der freien Stelle durch den Arbeitgeber Calvinus nicht informiert wurde.
Der Vorsitzende der Schwerbehindertenvertretung Marc Chagall will sogar vor Gericht gehen, weil der Arbeitgeber ihn nicht über den schwerbehinderten Bewerber Giorgio de Chirico informiert hat.
Die Lösung:
1. Anwendungsbereich des AGG
In § 2 AGG ist geregelt, dass Benachteiligungen und Diskriminierungen unter anderem wegen Behinderung in folgenden Fällen
unzulässig sind:
– Bei Auswahlkriterien und Einstellungen sowie Einstellungsbedingungen für den Zugang zu selbständigen und selbständigen Erwerbstätigkeiten, also insbesondere zu Arbeitsverhältnissen, unabhängig vom Tätigkeitsfeld in der beruflichen Position,
– bei der Auswahl für den beruflichen Aufstieg, Beförderung,
– bei Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich dem Arbeitsentgelt,
– bei Kündigungen und Entlassungen sowie Entlassungsbedingungen, insbesondere auch bei individualrechtlichen Vereinbarungen oder bei kollektivrechtlichen Vereinbarungen/Betriebsvereinbarungen und Maßnahmen im Zusammenhang mit der Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses,
– bei allen Ebenen der Berufsberatung, der Berufsbildung, einschließlich der Berufsausbildung und der beruflichen Weiterbildung sowie
Umschulung,
– bei sozialen Vergünstigungen.
Im Ergebnis bedeutet dies, dass der Gesetzgeber in § 2 AGG Diskriminierungen wegen Behinderung etc. im ganzen Bereich des Arbeitsverhältnisses verboten hat, soweit nicht ein sachlicher Grund besteht.
2. Stellenausschreibungen
Wenn Arbeitgeber Calvinus Probleme im Diskriminierungsbereich und mögliche Entschädigungspflichten vermeiden will, so muss
er bereits bei der Stellenausschreibung ansetzen, unabhängig davon, ob diese Stellenausschreibung betriebsintern erfolgt, in der Presse oder im Internet. Er darf insbesondere keine Benachteiligung wegen des
Geschlechtes oder wegen einer Schwerbehinderung durchführen.
Schon die früheren, vor dem AGG geltenden Vorschriften verlangten vom Arbeitgeber eine neutrale Stellenausschreibung. Es ist deshalb allen Arbeitgebern zu empfehlen, die Stellenausschreibung möglichst ohne zusätzliche Attribute und Ausschmückungen auf die zu erbringende Tätigkeit und das Anforderungsprofil zu beschränken.
Sind allerdings für die zu besetzende Stelle und Tätigkeit bestimmte körperliche Funktionen oder geistige Anforderungen notwendig, so darf dies der Arbeitgeber in die Ausschreibung hinein nehmen.
Beispiele: Formulierungen wie „junger, behender Hase“ oder „körperlich und geistig voll belastbar“ oder „uneingeschränkte Leistungsfähigkeit“ oder „uneingeschränkt körperlich einsetzbar“, „mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehend“ etc. sollten möglichst vermieden werden, da hier im Zweifel behinderte Bewerber zu Recht eine Diskriminierung schon bei der Stellenausschreibung wegen Behinderung rügen können.
Bedient sich der Arbeitgeber zur Stellenausschreibung dritter Personen, z.B. eines Personalvermittlers oder der Arbeitsagentur, so muss er nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts die Ausschreibung überwachen und für eine diskriminierungsfreie Ausschreibung Sorge tragen.
3. Prüfungspflicht des Arbeitgebers
Nach § 164 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist der Arbeitgeber Calvinus verpflichtet, zu prüfen, ob freie Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen besetzt werden können. Dabei ist er verpflichtet, insbesondere mit der Agentur für Arbeit zusammenzuarbeiten und nachzufragen, ob arbeitslos oder arbeitssuchend gemeldete schwerbehinderte Menschen vorhanden sind, die für die Stelle geeignet wären.
Der Gesetzgeber hat diese Regel aufgestellt, weil er davon ausgeht, daß in vielen Fällen gegen schwerbehinderte Menschen Vorbehalte
wegen ihrer Leistungsfähigkeit bestehen, auch wenn dies in den allermeisten Fällen überhaupt nicht begründet ist. Der Gesetzgeber verlangt deshalb vom Arbeitgeber eine aktive Mitwirkungspflicht zur Integration
und Eingliederung schwerbehinderter Menschen.
Aus diesem Grunde ist Arbeitgeber Calvinus verpflichtet, bei jeder Einstellung zu prüfen, ob freie Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen besetzt werden können und ob bei der Arbeitsagentur solche potentiellen Bewerber vorhanden sind. Dazu muss er frühzeitig mit der zuständigen Agentur für Arbeit zusammenarbeiten.
Um möglichst vielen schwerbehinderten Bewerbern die Möglichkeit zur Einstellung zu verschaffen, besteht die Prüfungs- und Meldepflicht auch dann, wenn sich bereits schwerbehinderte Menschen beim Arbeitgeber beworben haben.
Der Leiter der Arbeitsagentur Ludwig Ganghofer beschwert sich deshalb zu Recht, dass Arbeitgeber Calvinus ihm die freie, zu besetzende Stelle nicht gemeldet hat.
Nur dann, wenn die ursprünglich freie Stelle nicht mehr besetzt werden soll, weil sie z.B. wegrationalisiert wird, entfällt diese Prüfungs- und Meldepflicht.
4. Beteiligung der Gremien
Wenn der Arbeitgeber Arbeitsagentur oder das Kreisjobcenter informiert hat, so schlägt diese Institution dem Arbeitgeber geeignete schwerbehinderte Menschen vor, soweit dort solche Bewerber gemeldet sind.
Über diese Vermittlungsvorschläge und die dann vorliegenden Bewerbungen von schwerbehinderten Menschen muß der Arbeitgeber
sowohl die Schwerbehindertenvertretung wie auch den Betriebsrat/den Personalrat unmittelbar nach Eingang der Bewerbung unterrichten. Schon bei der Prüfung der freien Arbeitsstelle auf die Möglichkeit der
Besetzung von schwerbehinderten Menschen hin hat der Arbeitgeber nach § 164 Abs. 1 Satz 6 die Schwerbehindertenvertretung und den Betriebsrat/den Personalrat zu beteiligen bzw. anzuhören.
Diese schnelle Beteiligung der Gremien ist wichtig, da diese erst nach einer entsprechenden Unterrichtung ihren gesetzlichen Aufgaben genügen können.
Für die gesetzlich normierte Unterrichtungs- und Anhörungspflicht spielt
es keine Rolle, ob nach Meinung des Arbeitgebers ein geeigneter schwerbehinderter Mensch sich unter den Bewerbern oder den Vorschlägen der Arbeitsagentur befindet. Die eigentliche Prüfung der Bewerbungen und der Vorschläge muss stets zusammen mit den Personalvertretungen erfolgen.
Dazu muss der Arbeitgeber dann auch den entsprechenden Gremien die notwendigen Unterlagen zur Verfügung stellen. Insoweit entspricht die
Rechtslage der Anhörung des Betriebsrats nach § 99 Betriebsverfassungsgesetz. Ohne die Bewerbungsunterlagen wäre die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung nicht sinnvoll, da diese keine fundierte Stellungnahme abgeben kann.
Aus diesem Grunde hat die Schwerbehindertenvertretung wie der Betriebsrat/der Personalrat das Recht auf Einsicht in die maßgeblichen Teile der Bewerbungsunterlagen aller Bewerber, um sich ein umfassendes Bild der Eignung des schwerbehinderten Bewerbers mit den anderen Bewerbern machen zu können.
Der Vorsitzende der Schwerbehindertenvertretung Marc Chagall beschwert sich deshalb ebenfalls zu Recht, dass Arbeitgeber Calvinus ihn vor der geplanten Einstellung eines anderen Bewerbers nicht informiert, nicht mit ihm beraten und ihn nicht beteiligt hat.