Folge 324

Arbeitszeit – aktuelle Entwicklungen IV – Abrufarbeit / Vertrauensarbeitszeit

(Stand 2025)

Frage:

Wann beginnt meine Arbeitszeit eigentlich genau zu laufen, schon beim Verlassen der Wohnung, beim Betreten des Betriebes oder am eigentlichen Arbeitsplatz? Zählen Umkleide- und Waschzeiten zur Arbeitszeit? Kann der
Arbeitgeber von mir verlangen, daß ich auf Abruf bei betrieblicher Notwendigkeit erscheine? Was ist eigentlich Vertrauensarbeitszeit?

Der Fall:

Lawrence von Arabien ist auf Heimaturlaub in Südengland. Nun soll er wieder zurück zum nächsten Feldzug gegen die Türken nach Arabien. Er meint, dass die Wegezeit zum Arbeitsplatz von seinen Arbeitgebern, der
englischen Admiralität und den arabischen Scheichs voll zu bezahlen sei. Außerdem möchte er sonntags seine Anreise auf Gibraltar, Malta etc. unterbrechen wegen des Sonntagsarbeitsverbots.

Kaiser Napoleon I. hat seinen treuen Marschall Ney zur Unterstützung zur Schlacht beim Waterloo gerufen. Marschall Ney ist der Ansicht, dass die Anreise aus Montpellier als Dienstreise vergütungspflichtige Arbeitszeit sei. Napoleon kann keine Vorschrift solcherart in der kaiserlichen Dienstreiseordnung finden. Das Arbeitsgericht muss entscheiden.

Napoleons Bruder König Jerome von Westfalen, in Kassel residierend, hat Probleme mit den hessischen Soldaten. Diese meinen, dass ihre vergütungspflichtige Arbeitszeit schon beim Betreten der Kaserne beginne. Zumindest aber seien die Umkleide- und Waschzeiten vor und nach dem Dienst vergütungspflichtig.

Theaterfürst William Shakespeare hat den Dichter Walter Scott als Regie-Assistenten eingestellt. Er ruft ihn nur bei Bedarf zur Arbeit. Walter Scott meint aber, dass eine reguläre Arbeitszeit zu bezahlen sei.

Matthias Claudius beschäftigt die Schönschreiberin Richarda Huch zur Transformierung seiner Gedichte und Prosa. Claudius lehnt eine Arbeitszeitkontrolle, eine Stechuhr und Aufschriebe ab.

Er will eine Vertrauensarbeitszeit mit Richarda. Diese befürchtet, dass sie dann je nach Arbeitsanfall mehr als 40 Stunden pro Woche unentgeltlich arbeiten müsse.

Die Lösung:

13. Abrufarbeitszeit

Der Dichter Walter Scott ist zunächst zu Recht darüber empört, dass sein Arbeitgeber William Shakespeare ihn nur auf Abruf zu seiner Bühne holt und auch nur entsprechend seiner tatsächlichen Arbeitszeit bezahlt.
Allerdings muss auch hier betont werden, dass die Arbeitszeit und die Frage der Abrufarbeit eine Frage der individuellen arbeitsvertraglichen Vereinbarung darstellt.

In § 12 Teilzeit- und Befristungsgesetz ist die Möglichkeit von Abrufarbeit geregelt. Danach können Arbeitgeber und Arbeitnehmer vereinbaren, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung entsprechend dem Arbeitsanfall zu erbringen hat (Arbeit auf Abruf).
Solche Abrufarbeit wird in Fachkreisen auch „kapazitätsorientierte Verteilung der Arbeitszeit“ (Kapovaz) oder „flexible Arbeitszeit“ genannt. Eine solche flexible Arbeitszeit oder Abrufarbeit findet sich z.B. im
Bereich des Einzelhandels oder der Gastronomie, mittlerweile aber auch im Bereich sonstiger Dienstleistungen, wie z.B. im Pflegebereich.

Die Besonderheit der Abrufarbeit besteht darin, dass der Arbeitnehmer
vom Arbeitgeber nach den betrieblichen Bedürfnissen flexibel eingesetzt werden kann. Es ist nur diese tatsächliche Einsatzzeit vom Arbeitgeber zu bezahlen.

Achtung: Abrufarbeit oder flexible Arbeit ist jedoch nur dann möglich und zulässig, wenn dies ausdrücklich zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber vereinbart worden ist. Hat William Shakespeare dies nicht getan, so muss er dem Mitarbeiter Walter Scott mangels entsprechendem Abruf die volle Arbeitszeit bezahlen.

Problem Arbeitsmangel: Unter dem Begriff der Abrufarbeit fällt nicht der Umstand, dass manche Arbeitgeber bei fehlender Arbeit ihre Mitarbeiter einfach nach Hause schicken und diese Zeit nicht bezahlen wollen. Wenn der Arbeitnehmer damit nicht einverstanden ist, muss die Zeit bezahlt werden. Der Arbeitgeber befindet sich bei fehlenden Aufträgen oder fehlender Arbeit in Annahmeverzug, § 615 BGB.

14. Mindestdauer bei Abrufarbeit

Die Abrufarbeit setzt nach § 12 Abs. 1 Satz 2 Teilzeit- und Befristungsgesetz voraus, dass die Vereinbarung eine bestimmte Dauer der wöchentlichen und der täglichen Arbeitszeit festlegt. Ist eine wöchentliche Mindestdauer nicht festgelegt worden, so gilt eine Arbeitszeit von 10 Stunden pro Woche als vereinbart.

Diese Zeit ist dann in jedem Falle vom Arbeitgeber zu bezahlen, auch wenn der Arbeitnehmer nicht abgerufen wird. Wird die Dauer der täglichen Arbeitszeit nicht festgelegt, so muss der Arbeitgeber die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers jedenfalls für mindestens 3 aufeinander folgenden Stunden in Anspruch nehmen bzw. bezahlen.

Außerdem: Der Arbeitnehmer ist nur zur Arbeitsleistung verpflichtet, wenn der Arbeitgeber ihm die Lage der einzelnen verschiedenen Arbeitszeiten jeweils mindestens 4 Tage im Voraus mitteilt!

Es ist kaum denkbar, dass Shakespeare diesen Voraussetzungen genügt hat.

15. Vertrauensarbeitszeit

Vertrauensarbeitszeit gehört zu den neuen Erfindungen der globalisierten Wirtschaft, die viele Fragen aufwirft und vor allem viele Probleme bereitet. Vertrauensarbeitszeit bedeutet, dass der Arbeitgeber eine bestimmte wöchentliche Arbeitszeit vereinbart hat, diese aber angeblich oder tatsächlich nicht kontrollieren will, dem Arbeitnehmer vertraut, aber darauf besteht, dass der Arbeitnehmer die anfallende Arbeit ordnungsgemäß erledigt.

Theoretisch bedeutet dies, dass der Arbeitnehmer, wenn er schneller fertig wird, bei vollem Gehalt früher gehen kann. Benötigt der Arbeitnehmer mehr Zeit, muss er ohne Lohnausgleich länger bleiben. Die Praxis in den Betrieben mit Vertrauensarbeitszeit hat mittlerweile gezeigt, dass die erste Alternative (früher gehen) kaum, weniger oder gar nicht auftritt. Die zweite Alternative (länger bleiben) wird zum Regelfall.

Da der Arbeitgeber die tatsächliche Arbeitszeit nicht kennt oder kennen will, wird die Zusatzarbeit generell nicht bezahlt. Es besteht ein Gruppendruck, der letztendlich dazu führt, dass immer mehr Arbeitnehmer sich faktisch verpflichtet fühlen, über den Dienstschluß hinaus am Arbeitsplatz zu verbleiben.

16. Gesetzliche Grenzen

Vertrauensarbeitszeit enthebt den Arbeitgeber nicht der Kontrolle und Einhaltung der gesetzlichen Höchstarbeitszeiten, dem mit dem Betriebsrat vereinbarten Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit und der
Fürsorgepflicht, zum Wohl der Arbeitnehmer einzugreifen, wenn eine übermäßige Arbeitsleistung vorliegt und z.B. die Gesichtspunkte des betrieblichen Gesundheitsschutzes verletzt werden.

Für die Einhaltung des Arbeitszeitrechtes, der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates und der sonstigen gesetzlichen Vorschriften ist der Arbeitgeber auch bei der Einführung von Vertrauensarbeitszeit verantwortlich. Schon die Entgegennahme von Arbeit, die nicht dem Arbeitszeitgesetz entspricht, ist ein Verstoß gegen das Gesetz.

Der Arbeitgeber muss sowohl gegenüber den Kontrollbehörden, wie nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts auch gegenüber dem Betriebsrat die Arbeitszeit aller Arbeitnehmer mit Ausnahme der leitenden Angestellten darlegen.

Achtung: Auch die „AT-Angestellten“, bei denen oft Vertrauensarbeitszeit besteht, unterliegen der Kontrolle und der Mitbestimmung des Betriebsrats bei der Gestaltung der Arbeitszeit.

 

17. Kontrolle des Betriebsrats

Zur Wahrnehmung seiner Überwachungsaufgaben nach § 80 Betriebsverfassungsgesetz benötigt der Betriebsrat im Hinblick auf die Einhaltung der gesetzlichen Ruhezeiten und der tariflichen wöchentlichen Arbeitszeiten Kenntnis vom Beginn und Ende der täglichen tatsächlich geleisteten Arbeitszeit der Arbeitnehmer, sowie vom Umfang der wöchentlichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer einschließlich der AT-Angestellten.

Der Arbeitgeber muss seinen Betrieb so organisieren, dass er die Durchführung der geltenden Gesetze, Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen selbst gewährleisten kann. Er muss sich deshalb über die genannten Daten in Kenntnis setzen und kann dem Betriebsrat die Auskunft hierüber nicht mit der Begründung verweigern, er wolle die tatsächliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer wegen einer im Betrieb eingeführten „Vertrauensarbeitszeit“ bewusst nicht erfassen.

Textübernahmen aus den Arbeitsrechtsfolgen von Hans Gottlob Rühle:
Reine
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