Folge 316

Sittenwidrige Vergütung IV – Beispiele (2)


Frage:


Jeder niedrig bezahlte Arbeitnehmer oder Geringbeschäftigte, aber auch viele Arbeitgeber fragen sich zu Recht, wo nun
eigentlich die Grenze zwischen einem sittenwidrigen und einem zulässigen Lohn liegen. Wann kann ich zum Arbeitgeber gehen und ihn darauf hinweisen, daß er sich in die Gefahr begibt, wegen Lohnwuchers vielleicht
bestraft zu werden?


Der Fall:


    Musikalienunternehmer Arnold Schönberg muß unbedingt seinen Notenkeller entrümpeln lassen. Außerdem will er das Altpapier
    beim Altwarenhändler Anselm Feuerbach noch zu Geld machen.

    Schönberg stellt deshalb zur Entrümpelung die arbeitslosen Musikfreunde Clara Schumann und Maurice Chevalier ein. Er vereinbart mit ihnen folgendes:

    Für jeweils 500 kg Noten, aus dem Keller geschafft, gebündelt und zum Altwarenhändler Anselm Feuerbach im Leiterwagen gefahren, bekommen beide eine Arbeitsstunde verrechnet, die mit 10 Euro brutto angesetzt
    wird. Schönberg schätzt, daß 500 kg Noten in einer Stunde entrümpelt und weggebracht werden können.

    Die zierliche Clara schafft aufgrund ihrer schwächeren körperlichen Verfassung wie500 kg einschließlich
    Transport in 4 Stunden. Maurice Chevalier dagegen packt zu und schafft die Menge in 2 Stunden. Beide aber meinen, daß ein Stundenlohn von 2,50 Euro brutto bzw. 5 Euro brutto sittenwidrig sei.


Die Lösung


1. Sittenwidrige Tarifverträge?


    Es gibt Tarifverträge mit sehr niedrigen Stundenlöhnen, z.T. mit Stundenlöhnen unter 4 Euro. Aus diesem Grunde wird immer
    wieder die Frage gestellt, ob nicht schon solche Tarifverträge sittenwidrig seien. Auch bei der Debatte über den Mindestlohn wird darauf verwiesen, daß ein Teil der Tarifverträge nicht akzeptable Vergütungen
    vorsähen.

    Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts hat bislang die Frage offen gelassen, ob normative Regelungen eines Tarifvertrages eines Tarifvertrages am Maßstab des § 138 BGB gemessen werden können
    und möglicherweise sittenwidrig sind.

    Die Vorschrift des § 138 BGB findet nach dem Wortlaut nur auf Rechtsgeschäfte Anwendung. Diese Vorschrift erfaßt nach seiner systematischen Stellung daher nicht normative
    Regelungen wie Gesetze oder den normativen Teil von Tarifverträgen.

    Allerdings muß bedacht werden, daß in § 138 BGB die elementaren Gerechtigkeitsanforderungen unserer gesamten Rechtsordnung zum Ausdruck
    kommen. Diese Gerechtigkeitsanforderungen sind Ausfluß von Artikel 2 Abs. 1 GG und der darin geschützten allgemeinen Handlungsfreiheit sowie des Sozialstaatsprinzips, das in Art. 20 Abs. 1 GG geregelt ist.

    Nach den Ausführungen des Bundesarbeitsgerichts müssen sich auch Tarifabschlüsse an diesen Grundsätzen und den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen messen lassen. Andererseits aber müssen auch die Rechte
    der Tarifvertragsparteien aus Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz beachtet werden.

    Generell hat der Gesetzgeber mit dieser grundgesetzlichen Garantie der Tarifhoheit auch den Tarifvertragsparteien eine
    Richtigkeitsgewähr eingeräumt. Es ist deshalb im Allgemeinen davon auszugehen, daß die Arbeitsentgelte, die in freien Tarifverträgen ausgehandelt wurden, den Besonderheiten der Branche Rechnung tragen und
    wirksam sind. Dies gilt auch dann, wenn diese Löhne sehr niedrig sind.

    Eine Sittenwidrigkeit von Tariflöhnen käme nur dann in Betracht, wenn der Lohn unter Berücksichtigung aller Umstände einen nicht mehr
    tragbaren „Hungerlohn“ darstellt. Bisher hat aber das Bundesarbeitsgericht noch keinen Tarifvertrag in dieser Weise beanstandet.


2. Unzulässige Übertragung des Geschäftsrisikos


    Die Sittenwidrigkeit einer Vergütung kann sich insbesondere dann ergeben, wenn der Arbeitgeber im Zuge der
    Vergütungsvereinbarung sein Geschäfts- und Unternehmerrisiko in unzulässiger Weise auf den Arbeitnehmer überträgt und dadurch dessen Lohn in einer massiven Weise mindert.

    Dazu verschiedene Beispiele:


    Unzulässige Verlustbeteiligung: Beteiligt der Arbeitgeber Arbeitnehmer an seinen Geschäftsverlusten oder am zurückgehenden Umsatz, indem er in diesen Fällen die Vergütung der Arbeitnehmer mindert, so liegt eine
    sittenwidrige Regelung jedenfalls dann vor, wenn für die Beteiligung der Arbeitnehmer am Verlust kein angemessener Ausgleich erfolgt ist.

    – Blankoabrede: Eine Beteiligung der Arbeitnehmer an
    Kassenfehlbeständen ist dann sittenwidrig, wenn die Mitarbeiter nicht vor einen entsprechenden Ausgleich (Mankogeld etc.) vom Arbeitgeber erhalten haben.

    – Kostenbeteiligung: Vereinbarungen, wonach
    Arbeitnehmer an zukünftig entstehenden zusätzlichen Lohnkosten (Lohnnebenkosten) oder an der Steigerung der Betriebskosten, der Energiepreise, der Erhöhung der Rohstoffpreise etc. beteiligt werden, sind ohne
    finanziellen Ausgleich ebenfalls in der Regel sittenwidrig.

    – Beteiligung an Außenständen: Vereinbarungen, wonach der Lohn sich bei Mindereinnahmen des Arbeitgebers reduziert, insbesondere bei
    Zahlungsschwierigkeiten von Kunden, bei nichtbeglichenen Außenständen etc. können ebenfalls sittenwidrig sein.

    – Beteiligung am Geschäftsrisiko: Vereinbarungen über Lohnkürzungen bei ausbleibenden Aufträgen
    oder bei einem Absinken der Gewinnspannen können ebenfalls sittenwidrig sein. Das gilt jedenfalls dann, wenn davon die Grundvergütung betroffen ist.


3. Arbeitsmenge / Notenkeller


    Die Orientierung des Lohnes alleine an der Arbeitsmenge kann im Einzelfall ebenfalls problematisch sein.

    Zwar ist die
    Orientierung an der Arbeitsmenge im Bereich des Akkordlohnes völlig unproblematisch. Dabei liegen allerdings Messungen und Prüfungen einschließlich der Mitbestimmung des Betriebsrats vor, die in der Regel für
    einen auskömmlichen und gerechten Lohn sorgen.

    Sollte die Orientierung an der Arbeitsmenge so sein, daß ein auskömmlicher Lohn von Anfang an kaum möglich ist, könnte hier auch Lohnwucher vorliegen. Dies gilt
    vor allem im Falle der Clara Schumann.


4. Regaleinräumer


    Mittlerweile ist der Erfindungsreichtum der Wirtschaft so weit gediehen, die Arbeitsleistung nicht mehr an der
    Arbeitszeit, sondern von anderen Faktoren abhängig zu machen. Soweit es sich hier um faire Regelungen handelt und soweit der Arbeitnehmer seine Arbeitsmenge und seine Arbeitsleistung in erster Linie selbst
    beeinflussen oder bestimmen kann, sind solche Regelungen von der Rechtsprechung nicht beanstandet worden (z. Beispiel Akkordlohn)

    Sollte allerdings die Lohnhöhe sich nach der Arbeitsmenge bestimmen und der
    Arbeitnehmer die angebotene und zu verarbeitende Arbeitsmenge nicht mehr beeinflussen können, so bewegen sich solche Vergütungsmodelle in einem kritischen Bereich.

    Die Tätigkeit der Regaleinräumer im Handel
    z.B. orientiert sich an einer in die Regale einzuräumenden Warenmenge, die der einzelne Mitarbeiter nicht mehr beeinflussen kann. Sowohl Arbeitsgeschwindigkeit wie auch Arbeitsmenge hängen – im Gegensatz zur
    Akkordarbeit – nicht mehr vom Arbeitnehmer alleine ab, sondern auch von den zur Verfügung gestellten Waren, ihrem Gewicht und ihrem Wert, wie auch von der Menge der Waren.

    Diese neuen Lohnformen müssen von
    der Rechtsprechung noch genau geprüft und beurteilt werden, sind aber bedenklich in den jetzt geübten Formen.

Textübernahmen aus den Arbeitsrechtsfolgen von Hans Gottlob Rühle:
Reine
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