Folge 298

AGG V – Benachteiligung wegen des Geschlechts / wegen einer Behinderung

(Stand 2025)


Frage:

Frauen sind in den Führungsetagen stark unterrepräsentiert. Verbirgt sich dahinter eine mittelbare Diskriminierung des Geschlechtes? Im Erziehungssektor sind ganz überwiegend Frauen tätig. Warum sollen Männer dort nicht verstärkt arbeiten?

Darf mein Arbeitgeber eine Beschäftigung wegen meiner Behinderung ablehnen, nur weil es ihm zu teuer ist, Arbeitshilfen anzuschaffen?


Der Fall:

Als der Dirigent Arturo Toscanini seinen Taktstock weglegte, bewarb er sich im Kaufhaus für eine Tätigkeit als Verkäufer in der Damenoberbekleidung. Da die Kaufhaus-Chefin dies empört ablehnte, wollte er wenigstens als Kindergärtner im städtischen Kindergarten arbeiten. Der Jugendamtsleiter will dort aber keine Männer beschäftigen.

Die Bewerbung von Humphrey Bogart als Geschäftsführer der alternativen
Frauenliga Marburg ist gescheitert, weil ein Mann dort unerwünscht ist.

Der Dichter und Laborwerker Friederic Mistral möchte in seinem Betrieb beim morgendlichen Betriebsgebet als Vorbeter fungieren.
Arbeitgeber Klaus Kinski lehnt dies radikal ab, da Mistral lispelt.

Der blinde Seher Nestroy möchte gerne als Testfahrer bei einer Automobilfahrer eingestellt werden. Diese lehnt die Einstellung ab. Nestroy
meint, dass die Teststrecke mit vertretbarem Aufwand auch für Blinde ausgerüstet werden könne.

Madame Recamière bewirbt sich als Zeremonienmeisterin bei der Regierung in Berlin, Charlotte von Stein in Weimar als Vorstandsvorsitzende der Landesbank Sachsen-Coburg-Weimar. Beide werden abgelehnt. Beide meinen, dass dies nur aufgrund des Geschlechtes geschah.

Waren die Ablehnungen gerechtfertigt?


Die Lösung:


1. Zulässige unterschiedliche Behandlung

Nach § 8 AGG ist eine unterschiedliche Behandlung wegen der Behinderung, des Geschlechts, etc. zulässig, wenn ein bestimmtes Geschlecht oder das Fehlen einer bestimmten Behinderung für die Ausübung der Tätigkeit wesentlich ist, sofern der Zweck rechtmäßig und die Anforderungen angemessen sind.

Achtung: Die Vereinbarung einer geringeren Vergütung für gleiche oder gleichwertige Tätigkeit wegen des Geschlechts oder einer Behinderung ist dadurch aber generell nicht gerechtfertigt. Bei gleicher Arbeit muss gleicher Lohn gezahlt werden.

Diese gesetzliche Vorschrift lässt es zu, dass diskriminierende Tatbestände vorliegen und zugelassen werden, sofern ein sachlicher Grund dafür gegeben ist, der Zweck rechtlich nicht zu missbilligen ist und die Anforderungen an die Ausübung der Tätigkeit auch angemessen sind.


2. Gerechtfertigte Benachteiligung wegen des Geschlechts

Ganz generell kann gesagt werden, dass es nur wenige Betätigungen gibt, die ein bestimmtes Geschlecht zwingend oder in angemessener Weise voraussetzen.

Bei vielen Tätigkeiten sind entweder Männer oder Frauen weit überrepräsentiert. Gleichwohl ist bei den allermeisten dieser Tätigkeiten ein bestimmtes Geschlecht bei objektiver und verständiger Betrachtung zur Ausübung nicht erforderlich. Zum Teil sind traditionelle Entwicklungen und Vorstellungen dafür ausschlaggebend, dass das eine oder andere Geschlecht überrepräsentiert ist.

Merke: Es ist an der Zeit, sich im Berufsleben von den traditionellen Rollenvorstellungen zu lösen und sich zu fragen: Warum sollen nicht auch eine Frau/ein Mann die Tätigkeit ausüben können?

Die Hauptfälle einer geschlechtsspezifischen Berufsausübung betreffen biologische Notwendigkeiten:

– die das Kind säugende Amme,

– Mannequin für weibliche Bademoden bzw. Dressman für männliche Bademode,

– Sopranrolle in der Oper (Ausnahme: Kastrat),

– weiblicher oder männlicher Liebhaber in
Liebesfilmen mit körpernahen oder intimen Kameraeinstellungen.

Es dürfte zumindest angemessen sein, daß auch die Damenoberbekleidung im Kaufhaus einschließlich der Badebekleidung mit Anprobemöglichkeiten
durch weibliche Verkäuferinnen begleitet wird. Toscanini müßte zurückstehen.

Dagegen gibt es keinen angemessenen Grund, ihn als Kindergärtner wegen des Geschlechtes abzulehnen.

Weitere Beispiele:

– Für körperlich schwere Arbeit dürfen Frauen nicht generell ausgeschlossen werden (allerdings Beschäftigungsverbot für Schwangere nach dem Mutterschutzgesetz),

– die Einstellung von nur weiblichen Stewardessen in Flugzeugen ist geschlechterdiskriminierend,

– die Einstellung von nur männlichen Verkäufern und Außendienstmitarbeitern ist ebenfalls diskriminierend (Ausnahme beim Vertrieb in Arabien, wenn die arabischen Kunden sich generell weigern, mit Frauen zusammenzuarbeiten),

– ein Frauenverband soll berechtigt sein, die Stelle der Geschäftsführerin nur mit einer Frau zu besetzen. Humphrey Bogart hat insoweit schlechte
Karten. Ähnlich könnte es bei der Besetzung der Position der kommunalen Gleichstellungsbeauftragten sein,

– die Ablehnung von Frauen in Führungspositionen wegen des Geschlechtes ist diskriminierend und rechtswidrig. Madame Recamière und Frau von Stein würden obsiegen. Zumeist liegt in diesen Fällen jedoch eine mittelbare, sehr subtile Diskriminierung vor, die nur schwer nachzuweisen ist.

– Ein Frauenarzt mit überwiegend muslimischen Patientinnen ist berechtigt, nur weibliche Mitarbeiterinnen einzustellen.

BAG-Urteil: Eine Mitarbeiterin stellt fest, dass ihr männlicher Kollege bei gleicher Arbeit etc. ein höheres Gehalt bezieht, als sie. Auf ihre Beschwerde hin erklärt der Arbeitgeber, dass der Kollege bei der Einstellung besser verhandelt habe als sie und deshalb höher eingestuft sei. Er beruft sich auf die gesetzlich gesicherte Vertragsfreiheit.

Das BAG hat diese Aussage nicht gelten lassen. Es hat eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts angenommen und den Arbeitgeber wegen Verstoß gegen das AGG zu einer Erhöhung der Vergütung der Arbeitnehmerin verurteilt. Die Vertragsfreiheit rechtfertigt keine geschlechtsbezogene Diskriminierung.


3. Benachteiligung wegen der Behinderung

Das Benachteiligungsverbot wegen Behinderung entfällt dann, wenn der Arbeitnehmer wegen seiner Behinderung bestimmte Tätigkeiten entweder gar nicht oder nicht in einer angemessenen Weise oder einer angemessenen Zeit verrichten kann. Hier kann der Arbeitgeber zulässigerweise einen nicht behinderten Arbeitnehmer beschäftigen.

Das Gesetz spricht nicht von schwerbehinderten Menschen, sondern nur von einer „Behinderung“.

Definition: Nach allgemeiner Auffassung sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit für länger als 6 Monate vom typischen Zustand des Lebensalters
abweicht und daher die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beeinträchtigt ist.

Achtung: Dieser Behindertenbegriff ist sehr weit gefasst. Danach wäre eine Behinderung auch bei Menschen vorhanden, die z.B. depressiv sind oder adipös sind oder wegen fehlender geistiger Fähigkeiten nur geringe Leistungen erbringen können.

Beachte: Damit der Arbeitgeber sich nicht zu schnell auf die Ablehnung von schwerbehinderten Menschen berufen kann, verlangt das Gesetz in §  164 Abs. 4 Sozialgesetzbuch IX vom Arbeitgeber, dass er angemessene Vorkehrungen zur Beschäftigung von Schwerbehinderten zu treffen hat. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, geeignete Maßnahmen oder Hilfsmittel, z.B. Hebe-, Sitz-, Drehvorkehrungen, Rampen, Sehhilfen oder Hörhilfen einzuführen, die eine Beschäftigung trotz der Behinderung ermöglichen.

Insoweit hilft auch das staatliche Integrationsamt in sehr vielen Fällen mit erheblichen finanziellen Mitteln. Die Ablehnung eines behinderten Menschen ohne entsprechende Versuche zusammen mit dem Integrationsamt führt in vielen Fällen zu einer Diskriminierung wegen Behinderung.

Die Grenze der Arbeitgeberpflicht, ausreichende Vorkehrungen zur Beschäftigung von Behinderten zu treffen, liegt allerdings dann vor, wenn dem Arbeitgeber dadurch eine unverhältnismäßige, organisatorische, finanzielle oder sonstige Belastung trifft. Das liegt insbesondere dann vor, wenn die wirtschaftliche Lage des Unternehmens oder die organisatorischen Abläufe sinnvollerweise die Beschäftigung nicht zulassen und dadurch z.B. andere Arbeitsplätze gefährdet sind.

Tipp: Alleine die Berufung auf finanzielle Belastungen sind angesichts der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes allerdings bedenklich.

Ergebnis: Der blinde Seher Nestroy ist als Testfahrer bei einer Automobilfirma trotz aller Technik nicht geeignet. Der Laborwerker Frederic Mistral dagegen wäre als Vorbeter trotz seines Sprachfehlers im Rahmen der allgemein auszuübenden Toleranz zumindest für gelegentliche Einsätze geeignet. Etwas anderes läge vor, wenn er nur mehr oder weniger unverständliche Töne artikulieren könnte.

Textübernahmen aus den Arbeitsrechtsfolgen von Hans Gottlob Rühle:
Reine
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