Folge 298

AGG V – Benachteiligung wegen des Geschlechts / wegen einer Behinderung


Frage:

    Frauen sind in den Führungsetagen stark unterrepräsentiert. Verbirgt sich dahinter eine mittelbare Diskriminierung des Geschlechtes? Im Erziehungssektor sind ganz überwiegend Frauen tätig. Warum sollen Männer
    dort nicht verstärkt arbeiten? Darf mein Arbeitgeber eine Beschäftigung wegen meiner Behinderung ablehnen, nur weil es ihm zu teuer ist, Arbeitshilfen anzuschaffen?


Der Fall:

    Als der Dirigent Arturo Toscanini seinen Taktstock weglegte, bewarb er sich im Kaufhaus für eine Tätigkeit als Verkäufer in der Damenoberbekleidung. Da die Kaufhaus-Chefin dies empört ablehnte, wollte er
    wenigstens als Kindergärtner im städtischen Kindergarten arbeiten. Der Jugendamtsleiter will dort aber keine Männer beschäftigen.

    Die Bewerbung von Humphrey Bogart als Geschäftsführer der alternativen
    Frauenliga Marburg ist gescheitert, weil ein Mann dort unerwünscht ist.

    Der Dichter und Laborwerker Friederic Mistral möchte in seinem Betrieb beim morgendlichen Betriebsgebet als Vorbeter fungieren.
    Arbeitgeber Klaus Kinski lehnt dies radikal ab, da Mistral lispelt. Der blinde Sehr Nestroy möchte gerne als Testfahrer bei einer Automobilfahrer eingestellt werden. Diese lehnt die Einstellung ab. Nestroy
    meint, daß die Teststrecke mit vertretbarem Aufwand auch für Blinde ausgerüstet werden könne. Madame Recamiere bewirbt sich als Zeremonienmeisterin bei der Regierung in Berlin, Charlotte von Stein in Weimar als
    Vorstandsvorsitzende der Landesbank Sachsen-Coburg-Weimar. Beide werden abgelehnt. Beide meinen, daß dies nur aufgrund des Geschlechtes geschah.

    Waren die Ablehnungen gerechtfertigt?


Die Lösung:


1. Zulässige unterschiedliche Behandlung

    Nach § 8 AGG ist eine unterschiedliche Behandlung wegen der Behinderung, des Geschlechts, etc. zulässig, wenn ein bestimmtes Geschlecht oder das Fehlen einer bestimmten Behinderung für die Ausübung der Tätigkeit
    wesentlich ist, sofern der Zweck rechtmäßig und die Anforderungen angemessen sind.

    Achtung: Die Vereinbarung einer geringeren Vergütung für gleiche oder gleichwertige Tätigkeit wegen des Geschlechts oder
    einer Behinderung ist dadurch aber generell nicht gerechtfertigt. Bei gleicher Arbeit muß gleicher Lohn gezahlt werden.

    Diese gesetzliche Vorschrift läßt es zu, daß diskriminierende Tatbestände vorliegen und
    zugelassen werden, sofern ein sachlicher Grund dafür gegeben ist, der Zweck rechtlich nicht zu mißbilligen ist und die Anforderungen an die Ausübung der Tätigkeit auch angemessen sind.


2. Gerechtfertigte Benachteiligung wegen des Geschlechts

    Ganz generell kann gesagt werden, daß es nur wenige Betätigungen gibt, die ein bestimmtes Geschlecht zwingend oder in angemessener Weise voraussetzen. Bei vielen Tätigkeiten sind entweder Männer oder Frauen weit
    überrepräsentiert. Gleichwohl ist bei den allermeisten dieser Tätigkeiten ein bestimmtes Geschlecht bei objektiver und verständiger Betrachtung zur Ausübung nicht erforderlich. Zum Teil sind traditionelle
    Entwicklungen und Vorstellungen dafür ausschlaggebend, daß das eine oder andere Geschlecht überrepräsentiert ist.

    Merke: Es ist an der Zeit, sich im Berufsleben von den traditionellen Rollenvorstellungen zu
    lösen und sich zu fragen: Warum sollen nicht auch eine Frau/ein Mann die Tätigkeit ausüben können?

    Die Hauptfälle einer geschlechtsspezifischen Berufsausübung betreffen biologische Notwendigkeiten:

    – die das Kind säugende Amme,

    – Mannequin für weibliche Bademoden bzw. Dressman für männliche Bademode,

    – Sopranrolle in der Oper (Ausnahme: Kastrat),

    – weiblicher oder männlicher Liebhaber in
    Liebesfilmen mit körpernahen oder intimen Kameraeinstellungen.

    Es dürfte zumindest angemessen sein, daß auch die Damenoberbekleidung im Kaufhaus einschließlich der Badebekleidung mit Anprobemöglichkeiten
    durch weibliche Verkäuferinnen begleitet wird. Toscanini müßte zurückstehen. Dagegen gibt es kaum einen angemessenen Grund, ihn als Kindergärtner wegen des Geschlechtes abzulehnen.

    Weitere Beispiele:

    – Für
    körperlich schwere Arbeit dürfen nicht Frauen generell ausgeschlossen werden (allerdings Beschäftigungsverbot für Schwangere nach dem Mutterschutzgesetz),

    – die Einstellung von nur weiblichen Stewardessen in
    Flugzeugen ist geschlechterdiskriminierend,

    – die Einstellung von nur männlichen Verkäufern und Außendienstmitarbeitern ist ebenfalls diskriminierend (Ausnahme beim Vertrieb in Arabien, wenn die arabischen
    Kunden sich generell weigern, mit Frauen zusammenzuarbeiten),

    – ein Frauenverband soll berechtigt sein, die Stelle der Geschäftsführerin nur mit einer Frau zu besetzen. Humphrey Bogart hat insoweit schlechte
    Karten. Anders könnte es bei der Besetzung der Position der kommunalen Gleichstellungsbeauftragten sein,

    – die Ablehnung von Frauen in Führungspositionen wegen des Geschlechtes ist diskriminierend und
    rechtswidrig. Madame Recamiere und Frau von Stein würden obsiegen. Zumeist liegt in diesen Fällen jedoch eine mittelbare, sehr subtile Diskriminierung vor, die nur schwer nachzuweisen ist.

    – Ein Frauenarzt
    mit überwiegend muslimischen Patientinnen ist berechtigt, nur weibliche Mitarbeiterinnen einzustellen.


3. Benachteiligung wegen der Behinderung

    Das Benachteiligungsverbot wegen Behinderung entfällt dann, wenn der Arbeitnehmer wegen seiner Behinderung bestimmte Tätigkeiten entweder gar nicht oder nicht in einer angemessenen Weise oder einer angemessenen
    Zeit verrichten kann. Hier kann der Arbeitgeber zulässigerweise einen nichtbehinderten Arbeitnehmer beschäftigen.

    Das Gesetz spricht nicht von schwerbehinderten Menschen, sondern nur von einer „Behinderung“.
    Definition: Nach allgemeiner Auffassung sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit für länger als 6 Monate vom typischen Zustand des Lebensalters
    abweicht und daher die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beeinträchtigt ist.

    Achtung: Dieser Behindertenbegriff ist sehr weit gefaßt. Danach wäre eine Behinderung auch bei Menschen vorhanden, die z.B.
    depressiv sind oder fettleibig oder wegen fehlender geistiger Fähigkeiten nur geringe Leistungen erbringen können.

    Beachte: Damit der Arbeitgeber sich nicht zu schnell auf die Ablehnung von behinderten
    Menschen berufen kann, verlangt das Gesetz in § 81 Abs. 4 Sozialgesetzbuch IX vom Arbeitgeber, daß er angemessene Vorkehrungen zur Beschäftigung von Behinderten zu treffen hat. Der Arbeitgeber ist verpflichtet,
    geeignete Maßnahmen oder Hilfsmittel, z.B. Hebe-, Sitz-, Drehvorkehrungen, Rampen, Sehhilfen oder Hörhilfen einzuführen, die eine Beschäftigung trotz der Behinderung ermöglichen. Insoweit hilft auch das
    staatliche Integrationsamt in sehr vielen Fällen mit erheblichen finanziellen Mitteln. Die Ablehnung eines behinderten Menschen ohne entsprechende Versuche zusammen mit dem Integrationsamt führt in vielen Fällen
    zu einer Diskriminierung wegen Behinderung.

    Die Grenze der Arbeitgeberpflicht, ausreichende Vorkehrungen zur Beschäftigung von Behinderten zu treffen, liegt allerdings dann vor, wenn dem Arbeitgeber dadurch
    eine unverhältnismäßige, organisatorische, finanzielle oder sonstige Belastung trifft. Das liegt insbesondere dann vor, wenn die wirtschaftliche Lage des Unternehmens oder die organisatorischen Abläufe
    sinnvollerweise die Beschäftigung nicht zulassen und dadurch z.B. andere Arbeitsplätze gefährdet sind.

    Tip: Alleine die Berufung auf finanzielle Belastungen sind angesichts der Rechtsprechung des Europäischen
    Gerichtshofes allerdings bedenklich.

    Ergebnis: Der blinde Seher Nestroy ist als Testfahrer bei einer Automobilfirma trotz aller Technik nicht geeignet. Der Laborwerker Frederic Mistral dagegen wäre als
    Vorbeter trotz seines Sprachfehlers im Rahmen der allgemein auszuübenden Toleranz zumindest für gelegentliche Einsätze geeignet. Etwas anderes läge vor, wenn er nur mehr oder weniger unverständliche Töne
    artikulieren könnte.

Textübernahmen aus den Arbeitsrechtsfolgen von Hans Gottlob Rühle:
Reine
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