(Stand 2025)
Der Fall
Der globale Unternehmer Conny Rockefeller führt in seiner United Oil Company und in allen ausländischen Tochtergesellschaften Ethik-Richtlinien ein. Zur Meldung von Ethik-Verstößen regelt er folgendes:
„I. Sie werden aufgefordert, ethische Bedenken unverzüglich vorzubringen. Ihre Bedenken können Sie dem Vertrauens-Vorgesetzten vorbringen oder dem nationalen Ethik-Büro oder durch eine vertraulich arbeitende anonyme Hotline. Wenn Ihre ethischen Bedenken trotz Meldung nicht gelöst werden, sollten Sie diese an anderer Stelle erneut vorbringen.
II. Eine der wichtigsten Aufgaben aller Mitarbeiter ist die Verpflichtung, die Beobachtung einer möglichen Verletzung der Ethik-Richtlinie oder der Gesetze zu melden. Sollten Sie eine Meldung unterlassen, so können Sie dem Unternehmen oder den Mitarbeitern schaden.
Deshalb ist jeder Mitarbeiter verpflichtet, jede bekannte oder vermutete Verletzung der Gesetze, gültiger Bestimmungen oder dieser Ethik-Regeln unverzüglich mitzuteilen.
III. Sie können die Meldung wie folgt vorbringen:
– Nutzen Sie die Politik der Offenen Tür bei Ihrem Vorgesetzten. Dies ist der direkteste Weg, außer wenn Sie meinen, Ihr Vorgesetzter ist bei dem
Fehlverhalten beteiligt. Wenden Sie sich dann an die nächsthöhere Stelle,
– oder kontaktieren Sie das Ethik-Büro,
– oder benutzen Sie die Ethik-Hotline. Jede Niederlassung hat ein Telefon, mit dem Sie auf vertraulicher und anonymer Basis Ihr Anliegen in der Zentrale in New York vorbringen können.
IV. Jeder Angestellte, der in gutem Glauben über eine Missachtung berichtet, braucht für diesen Bereich keine negativen Konsequenzen zu fürchten.“
Der verarmte Jakob Fugger stellt in der Niederlassung Augsburg fest, dass ständig giftige Brühe in den Lech eingeleitet wird. Da er niemandem traut, meldet er die Einleitungen unmittelbar der Umweltpolizei. Als Betriebsleiter Franz-Josef davon erfährt, spricht er sofort die fristlose Kündigung aus.
Der Marburger Niederlassungsleiter Hermann von Salza teilt der Hotline
in die USA mit, daß der Personalchef Konrad von Marburg die Angestellte Elisabeth von Thüringen ständig durch Schläge auf den Popo züchtigt. Weiter teilte er mit, daß deren Schwager Heinrich Raspe Drogen nimmt
und während der Arbeitzeit regelmäßig Mutterkorn kifft.
Auf Anforderung faxt er die Krankenakte von Heinrich Raspe nach New York. Darauf hin setzt Rockefeller den Deutschland-Chef Philipp von Schwaben in Bewegung, um Raspe zu kündigen.
Betriebsrat Konradin widerspricht aber der Kündigung, da das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats missachtet wurde. Nach Ansicht des Betriebsrats ist alles unwirksam.
Ein Kündigungsrecht scheidet deshalb aus, weil die Ethik-Richtlinie ohne Zustimmung des Betriebsrats in Marburg bzw. des Gesamtbetriebsrats (Deutschland) von Rockefeller eingeführt wurde. Auch der Datenschutz sei wegen der Personalakte von Heinrich Raspe verletzt.
Conny Rockefeller findet diesen europäischen Bedenkenzirkus einfach blöd und hinderlich.
Die Lösung
1. Schadensabwendungspflicht
Jeder Mitarbeiter ist schon aufgrund seines Arbeitsvertrages und der daraus folgenden Nebenpflichten gehalten, vom Arbeitgeber, wie auch von allen Arbeitskollegen Schäden abzuwenden, soweit ihm dies möglich und zumutbar ist. Dazu ist eine Ethik-Richtlinie á la Rockefeller nicht nötig.
Ein Mitarbeiter, der seiner Schadensabwendungspflicht bzw. seiner Schadensminderungspflicht nicht genügt, wird im Zweifel gegenüber dem Arbeitgeber oder den Arbeitskollegen schadenersatzpflichtig werden. In jedem Falle aber könnte die Vertragsverletzung eine Abmahnung oder gar eine Kündigung, je nach Schwere des Falles, nach sich ziehen.
Die Schadensabwendungspflicht braucht nicht arbeitsvertraglich oder per Ethik-Richtlinie ausdrücklich vereinbart oder angeordnet sein. Sie ergibt sich aus der Natur des Arbeitsverhältnisses.
2. Whistleblowing
Die Ethik-Richtlinie des Arbeitgebers Rockefeller mit ihrer Pflicht zur Denunziation von Arbeitskollegen geht über die vertragliche Schadensabwendungspflicht der Arbeitnehmer weit hinaus.
Die sehr oft geforderte Verhaltenspflicht wird in den USA „Whistleblowing“ genannt. Auf deutsche übersetzt bedeutet dies „verpfeifen“. Die Anordnung eines solchen „Verpfeifens“ ist jedoch problematisch.
3. Mitteilung an Behörden
Zur Durchsetzung von Ethik-Richtlinien werden im Ausland Mitarbeiter häufig verpflichtet, Verstöße bei Vorgesetzten oder anderen Stellen anzuzeigen. Mitarbeiter, die dies tun, werden regelmäßig vor arbeitsrechtlichen Maßnahmen geschützt. In den USA ist wegen des Fehlens vieler Arbeitnehmerschutzgesetze und mangelnder Gewerbeaufsicht ein solches Denunzieren vom Arbeitgeber oft gewünscht, um vorbeugend gegen Schadenersatzklagen Dritter oder sonstiger geschädigter Arbeitnehmer tätig werden zu können.
In Europa jedoch unterliegen solche Denunziationsvorgänge einer anderen Wertung. Vor allem dann, wenn Behörden oder Dritte eingeschaltet werden, sieht das Bundesarbeitsgericht in einer solchen externen Anzeige oft einen Grund für eine verhaltensbedingte ordentliche oder gar für eine fristlose Kündigung an.
Das Bundesarbeitsgericht nimmt eine Abwägung vor, indem es das Interesse des Arbeitgebers zur Vermeidung von behördlichen
Maßnahmen einerseits und das Recht des Arbeitnehmers auf Schutz andererseits gegenüberstellt. Den Arbeitnehmer trifft dabei die Pflicht, im Bereich des Zumutbaren auf die betrieblichen Interessen des
Arbeitgebers Rücksicht zu nehmen. Der Arbeitgeber hat die berechtigte Erwartung, daß der Arbeitnehmer den erkannten tatsächlichen oder vermeintlichen Mißstand entweder selbst beseitigt oder diesen bei seinem
Vorgesetzten oder an höhrer Stelle anzeigt, damit diese tätig werden.
Das Bundesarbeitsgericht will den Arbeitgeber vor Mitarbeitern schützen, die ihn „fertigmachen“ wollen. Allerdings besteht ein  Anzeigerecht in jedem Falle, wenn der Arbeitnehmer entweder
– sich ohne Strafanzeige selbst einer möglichen Strafverfolgung aussetzt oder
– wenn die angezeigte Straftat besonders schwerwiegend ist, z.B.
Gefahr für Leib und Leben Dritter beinhaltet oder
– wenn eine Aufklärung und Behebung von Seiten des Arbeitgebers und seines Führungspersonals nicht zu erwarten ist.
Regelmäßig ist deshalb der Arbeitnehmer unter Berücksichtigung der Zumutbarkeitsgrenzen gehalten, zunächst ein internes Verfahren einzuleiten, bevor er sich wegen Missständen an externe Personen oder Behörden wendet.
Dies gilt erst recht für die Einschaltung der Presse. Die Einschaltung der Presse oder der Medien ist nahezu immer ein schwerwiegender Arbeitsvertragsverstoß.
Der verarmte Arbeitnehmer Jakob Fugger muß deshalb zumindest mit einer
ordentlichen Kündigung rechnen, weil er versäumt hat, vor der Verständigung der Umweltpolizei zunächst die rechtswidrigen, umweltgefährdenden Gifteinleitungen in den Lech betriebsintern zu verhindern. Sollte er dies jedoch nachweislich vergeblich versucht haben, wäre er geschützt.
Ebenso wäre er entschuldigt, wenn er nachweist, dass die Meldung an Vorgesetzte oder Arbeitgeber fruchtlos gewesen wäre, da diese selbst an der Umweltstraftat beteiligt waren oder diese duldeten. Dies gilt insbesondere, weil durch solche Umweltstraftaten schwerwiegende Gefahren für die Umwelt und die Volksgesundheit entstehen.
4. Neu: Hinweisgeberschutzgesetz
Mit Wirkung vom 31. Mai 2023 hat der deutsche Gesetzgeber zur Regelung dieser Problematik das „Hinweisgeberschutzgesetz“ geschaffen.
Dieses Gesetz regelt den Schutz von natürlichen Personen, die im Zusammenhang mit ihrer beruflichen Tätigkeit Informationen über Verstöße erlangt haben und diese an die nach diesem Gesetz vorgesehenen Meldestellen weitergeben oder offen legen. Es sollen auch die Personen vor unrechtmäßiger Anschuldigung geschützt werden, die von einer Meldung betroffen sind.
Nach § 7 Abs.1 HinSchG besteht ein Wahlrecht zwischen interner und externer Meldung. Sofern intern wirksam vorgegangen werden kann und keine Repressalien zu befürchten sind, soll zuerst eine Meldung an eine interne Meldestelle erfolgen.
Wenn dem intern gemeldeten Verstoß nicht abgeholfen wird, kann der Hinweisgeber sich dann an eine externe Stelle wenden.
Nach § 12 HinSchG ist der Arbeitgeber verpflichtet, mindestens eine interne Meldestelle einzurichten, an die sich die Arbeitnehmer wenden können.
Nach § 9 HinSchG sind durch dieses Gesetz diejenigen Personen nicht geschützt, die vorsätzlich oder grob fahrlässig falsche Informationen oder Meldungen durchführen. Diese Regelung entspricht der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts.
§ 36 HinSchG verbietet ausdrücklich Repressalien oder den Versuch von Repressalien gegen die hinweisgebende Person. Sollten für diese Person Nachteile entstehen, besteht nach § 37 HinSchG ein Schadenersatzanspruch der Betreffenden gegen die jeweiligen Schädiger.
Andererseits haftet der Whistleblower nach § 38 HinSchG auf Schadenersatz, der vorsätzlich oder grob fahrlässig eine Falschmeldung abgegeben hat, sofern daraus ein Schaden entstanden ist.