Der Fall
Die Arbeitgeberin Katharina Romanova (genannt „die Große“) weiß durch ihren Stallmeister Potjemkin, welche Probleme durch Liebe und Sünde am Arbeitsplatz entstehen können. Aus diesem
Grunde erläßt sie eine Ethik-Richtlinie mit folgendem Inhalt:
„Private Beziehungen / Liebesbeziehungen
Von allen Mitarbeitern wird ein Verhalten verlangt, das Respekt, Vertrauen und Effizienz am
Arbeitsplatz fördert. Aus diesem Grunde wird ein Flirt-, Shaker- und Schmuseverbot während der Arbeitszeit für alle Mitarbeiter erlassen.
Die Mitarbeiter dürfen außerdem weder innerbetrieblich noch
außerbetrieblich in eine Liebesbeziehung mit einer Person treten, deren Arbeitsbedingungen durch die Liebesbeziehung beeinflußt werden könnte oder umgekehrt, dadurch selbst Einfluß ausüben könnte.
Es ist
außerdem untersagt, mit Mitarbeitern oder dritten Personen auszugehen oder privat zu verkehren, soweit über diese Beziehung Einfluß auf das Arbeitsverhältnis des einen oder des anderen oder auf die
geschäftlichen Interessen der Firma ausgeübt werden könnte.“
Abteilungsleiter Ferdinand Lasalle, der sich schon des öfteren mit dem Personalchef Friedrich Engels wegen Damen duelliert hat, findet die ganze
Regelung ungehörig und menschenrechtswidrig. Bei Einhaltung des Verbots müßte er sein ganzes Leben umkrempeln. Er ist der Ansicht, daß sein Arbeitgeber keinen Anspruch darauf besitzt, die privaten Beziehungen
innerhalb der Firma oder gar im außerdienstlichen Bereich zu regeln.
Betriebsrat August Bebel besteht darauf, daß der Betriebsrat in jedem Falle mitzubestimmen habe.
Die Lösung
1. Menschenwürde
Das Grundgesetz schützt in seinen Art. 1 und 2 die Würde des Menschen sowie das Recht der Menschen auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Insoweit sind zentrale Werte der Verfassung
berührt.
Zwar gilt das Grundgesetz generell als Abwehrrecht gegenüber dem Staat und nicht zwischen privaten Personen wie Katharina und Ferdinand Lasalle. Die Rechtsordnung erkennt jedoch das Recht der
Menschen auf Achtung ihrer Würde aus Art. 1 Grundgesetz und das Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit auch als ein privates, von jedermann zu achtendes Recht an. Dies gilt jedenfalls soweit, wie die
Rechte des einzelnen nicht die Rechte der Anderen oder der Gemeinschaft verletzen oder gegen die verfassungsmäßige Ordnung bzw. das Sittengesetz verstoßen (Art. 2 Grundgesetz). Insoweit spricht die
Rechtsprechung von der „Drittwirkung“ der Grundrechte.
Zum Persönlichkeitsrecht des Einzelnen und zur Entfaltung der Persönlichkeit gehört das Recht, selbst zu entscheiden, ob und vor allem mit wem der
Einzelne freundschaftlich in Beziehungen tritt und privat verkehrt. Dazu gehört insbesondere aber auch das Recht, selbst zu entscheiden, mit wem er eine Liebesbeziehung anbahnt oder aufnimmt.
2. Persönlichkeitsrecht im Arbeitsverhältnis
Das Leben der meisten Arbeitnehmer wird zu einem wesentlichen Teil durch das Arbeitsverhältnis, Befriedigung durch die Arbeit und die Existenzsicherung mit den Arbeitsergebnissen
bestimmt und geprägt. Das Selbstwertgefühl vieler Arbeitnehmer, wie auch die Achtung und Wertschätzung innerhalb der Familie, im Freundeskreis und in der Gesellschaft werden zu einem erheblichen Teil von der Art
und Weise bestimmt, wie ein Arbeitnehmer seine Arbeit zu leisten hat. Daher ist es für die Würde des Menschen nicht nur entscheidend, daß er Arbeit leistet. Sein Selbstwertgefühl wird auch dadurch beeinflußt,
daß er mit bestimmten Arbeitskollegen zusammenarbeitet, wie er sich mit den Arbeitskollegen versteht, wie er sich ihnen gegenüber verhält, ob er sich mit ihnen befreundet oder ob er gar in eine Liebesbeziehung
zu dem einen oder anderen Kollegen eintritt.
Neben dem Freizeitbereich verschafft der Umgang mit Arbeitskollegen dem Einzelnen eine wesentliche Möglichkeit zur Entfaltung seiner geistigen und körperlichen
Fähigkeiten und damit ebenfalls zur Entfaltung seiner Persönlichkeit. Im Kontakt mit den Kollegen kann er sich beweisen, seine Fähigkeiten ausbauen, steigern und messen. Je weiter die Persönlichkeit im
Arbeitsverhältnis eingeschränkt ist, um so mehr ist die Würde des Menschen betroffen.
Ein Verbot, mit Kollegen, Vorgesetzten oder Untergebenen sich im Betrieb zu befreunden oder gar privat mit ihnen in
Kontakt zu treten, greift tief in das Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers ein.
3. Außerdienstlicher Bereich
Die Ethik-Richtlinie der Katharina Romanova trifft insbesondere auch den außerdienstlichen, rein privaten Bereich des Arbeitnehmers. Zwar ist dem Mitarbeiter nicht generell untersagt,
mit Kollegen auszugehen. Die Richtlinie schränkt jedoch die private Entfaltungsmöglichkeit erheblich ein, indem ständig geprüft werden muß, ob die private Beziehung eine private Beeinflussung dienstlicher
Belange mit sich bringen kann. Gerade insoweit ist auch die Menschenwürde erheblich beeinträchtigt.
Nach bisherigem Verständnis im Rahmen des deutschen und europäischen Rechtskreises kann der Arbeitgeber
nicht ohne zwingende Gründe über den Arbeitsvertrag regeln, mit wem der einzelne Arbeitnehmer Essen oder Tanzen gehen darf, mit wem er gesellschaftlich verkehren oder eine Kirmes, ein Schützenfest, eine Oper
besuchen darf.
4. Berechtigte Arbeitgeberinteressen
Die Ethik-Richtlinie der Katharine Romanova hat durchaus einen ernsten Hintergrund und Anlaß. In vielen Unternehmen wird es nicht gerne gesehen, wenn Vorgesetzte mit Untergebenen und
umgekehrt Liebesbeziehungen eingehen. Diese Vorgänge sind durchaus sensibel. Es gibt ausreichend Beispiele für Konfliktsituationen.
Gleichwohl geht die Rechtsprechung nach wie vor davon aus, daß das Eingehen
einer Freundschaft oder einer Liebesbeziehung auch mit Arbeitskollegen letztendlich eine Privatangelegenheit der beteiligten Personen ist und den Arbeitgeber jedenfalls zunächst nicht zu interessieren hat.
Etwas anderes gilt dann, wenn es aufgrund dieser Beziehungen im Betrieb zu Spannungen zwischen Arbeitnehmern oder zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern kommt. In diesem Falle kann und muß der Arbeitgeber zur
Wahrung des Betriebsfriedens und des ungestörten Betriebsablaufes eingreifen.
Achtung: Es ist dann allerdings nicht das Liebesverhältnis oder die Partnerschaft bzw. die Freundschaft, Cliquenbildung etc., die
stört. Vielmehr ist es das daraus abgeleitete Verhalten der befreundeten Mitarbeiter oder das Verhalten der anderen Kollegen, das zur Störung führt.
Hier muß der Arbeitgeber evtl. die neidischen,
eifersüchtigen Kollegen zur Ordnung rufen.
Die Rechtsprechung kommt deshalb zum Ergebnis, daß solche Ethik-Richtlinien wegen Verstoßes gegen die Menschenwürde und das Persönlichkeitsrecht keinen Bestand haben
können, sondern nichtig sind.
5. Mitbestimmung des Betriebsrats
Bei nichtigen oder unwirksamen Regelungen kann der Betriebsrat nicht mitbestimmen. Die unwirksame Regelung wird rechtlich als nicht existierend betrachtet. Mitbestimmung über ein Nullum
gibt es nicht. Betriebsrat Bebel kann die Arbeitnehmer nur auf die Unwirksamkeit dieser Regelung hinweisen.
Achtung: Ein Mitbestimmungsrecht könnte sich allerdings dann ergeben, wenn die Arbeitgeberin in der
Ethik-Richtlinie gleichzeitig Verfahrensgrundsätze aufstellt über die Frage, wie bei der Anbahnung oder Eingehung von Freundschaften reagiert werden muß, wer und wie die Vorgänge wem meldet und ggf. welche
Maßnahmen zu ergreifen sind. Hier wäre Betriebsrat August Bebel wieder voll gefragt.