Folge 225

Gebetspausen am Arbeitsplatz II


Der Fall

    Der tiefgläubige Suleiman verlangt von seinem Arbeitgeber Barbarossa zur Ve

    rrichtung seines muslimischen Morgengebets in der Frühschicht zwischen 6 Uhr und
    8 Uhr die Freistellung für 3 Minuten.

    Das Unternehmen von Barbarossa ist im Bereich der Metallverarbeitung beschäftigt. Der Kläger arbeitet an einer Bandstraße. Barbarossa lehnt ab, weil er das Band nicht
    wegen des Klägers für 3 Minuten anhalten könne. Dies verursache erhebliche wirtschaftliche Verluste.

    Suleiman schlägt den Einsatz eines Springers vor. Barbarossa hat jedoch nicht regelmäßig einen Springer zur
    Verfügung.

    Barbarossa beschäftigt 500 Arbeitnehmer, darunter 150 Moslems. Er hält die Einrichtung von Gebetspausen für alle Moslems für wirtschaftlich und technisch völlig ausgeschlossen. Eine Vereinbarung
    über das Abhalten von Gebetspausen besteht weder zwischen Suleiman und Barbarossa, noch zwischen dem Betriebsrat und Arbeitgeber.

    Suleiman besteht auf der Wahrnehmung seiner religiösen Pflichtgebete und
    beruft sich auf sein Recht zur freien Religionsausübung.



Die Lösung



4. Recht zur Religionsausübung


    Sowohl aus der Generalklausel des § 242 BGB, wie auch aus allgemeinen Grundsätzen des Arbeitsvertragsrechts und auch aus § 616 BGB ergibt sich
    die Pflicht der Arbeitsvertragsparteien auf gegenseitige Rücksichtnahme und Respektierung im Rahmen des Zulässigen und des Zumutbaren.

    Durch verfassungskonforme Auslegung der Generalklauseln können auch
    Grundrechte des Arbeitnehmers wie des Arbeitgebers in das Vertragsrecht einfließen und eine Pflicht der jeweiligen Gegenseite zur Rücksichtnahme auslösen.

    Dabei ist anerkannt, daß sich die Grundrechte auch
    über den Anwendungsbereich des Artikel 1 Abs. 3 Grundgesetz (GG) ganz oder teilweise an Privatpersonen wenden können. Sie wirken vor allem auf dem Wege über die Auslegung ausfüllungsfähiger und
    wertausfüllungsbedürftiger Generalklauseln im Privatrecht. Zu dieser mittelbaren Wirkung der Grundrechte gehört vor allem die ungestörte Religionsausübung, soweit sie betrieblich möglich und zumutbar ist. Die
    von Suleiman begehrten Gebetspausen unterliegen dem Schutzbereich des Art. 4 Abs. 2 GG. Sowohl zum Begriff der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG wie auch zum Recht auf ungestörte
    Religionsausübung gehört insbesondere das Durchführen von Gebeten.



5. Religiöse Pflicht?


    Zur Religionsausübung gehört die Durchführung der zwingend vorgeschriebenen Handlungen und Riten. Ausreichend ist allerdings auch, daß der Gläubige die
    religiösen Handlungen selbst als verbindlich ansieht.

    Nach der Auskunft des Islamrates handelt es sich bei dem Frühgebet um ein Pflichtgebet. Das Nachholen soll nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich
    sein. Die Einhaltung der religiösen Regeln ist insoweit in die Gewissensentscheidung des einzelnen Gläubigen gestellt.

    Damit hat Suleiman glaubhaft gemacht, daß er als gläubiger Muslim auch wegen des
    Frühgebetes aus Art. 4 Abs. 2 GG geschützt ist. Die Abhaltung des Frühgebetes beruht nicht auf überzogener Religiosität oder besonderer Eigenwilligkeit des Arbeitnehmers.

    Diese Gewissensentscheidung des
    Gläubigen muß in einem solchen Falle von seiten des Gerichts respektiert werden. Das Gericht hat sich einer Bewertung der Gewissensentscheidung zu enthalten.



6. Verzicht auf Rechte


    Die Arbeitsvertragsparteien haben zwar im Arbeitsvertrag über die Frage der Religionsausübung bzw. über Gebetspausen nichts geregelt. Gleichwohl ist die
    Frage, ob damit der Arbeitnehmer auf seine grundgesetzlich gesicherten Positionen, insbesondere auch auf das Recht zur Religionsausübung verzichtet hat.

    Ein solcher Verzicht aufgrund gesetzlicher Positionen
    ist im Arbeitsvertrag grundsätzlich möglich. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Arbeitnehmer bei Abschluß des Arbeitsvertrages damit rechnen mußte, daß die ordnungsgemäße Erfüllung des Arbeitsvertrages mit
    seinem Glauben oder Gewissen kollidieren könnte.

    Ein Grundrechtsverzicht wird für zulässig erachtet, da die Verfügung über Grundrechtspositionen eine wesentliche Form des Grundrechtsgebrauchs darstellt. Wer
    freiwillig privatrechtliche Verpflichtungen eingeht, Dienst- und Arbeitsverhältnisse begründet, soll diese Verpflichtungen aus diesem Arbeitsvertrag nicht unter Berufung auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit
    nachträglich widerrufen können. Sonst wäre eine geordnete Arbeitswelt nicht möglich.




    Beispiel:


    Wird ein Kriegsdienstverweigerer bei einem Rüstungshersteller
    ei

    ngestellt, so kann er nicht nachträglich die Mitwirkung an der Herstellung von Panzern mit der Begründung verweigern, daß dies gegen seine Gewissensentscheidungen verstoße.



7. Schweigen als Verzicht?


    Die unterlassene Regelung im Arbeitsvertrag führt auch nicht zu einem stillschweigenden konkludenten Verzicht auf die von Suleiman geforderte
    Religionsausübung. Das Unterlassen einer Vertragsregelung ist nicht automatisch ein Verzicht.




    Beispiel:


    Wenn im Arbeitsvertrag nicht ausdrücklich der
    Urlaub geregelt ist oder die Pflicht zur Erbringung von Überstunden, so hat damit der Arbei

    tnehmer nicht stillschweigend auf Urlaub verzichtet und der Arbeitgeber stillschweigend
    auf die Ableistung von Überstunden!

    Dem Arbeitnehmer wäre es im Zuge der Vertragsverhandlungen auch nicht zumutbar, über seine Religionsausübung am Arbeitsplatz mit dem Arbeitgeber zu verhandeln. Aufgrund
    seiner Verhandlungsschwäche würde der Arbeitsvertrag sonst kaum zustande kommen. Der Arbeitnehmer müßte auch sein religiöses Bekenntnis bei Beginn der Verhandlungen offenbaren und ggf. Benachteiligungen in Kauf
    nehmen. Zur Sicherung der Glaubensfreiheit ist bei der Bewerbung um den Arbeitsplatz die Frage nach der Religionszugehörigkeit generell unzulässig (kirchliche Betriebe). Es wäre deshalb auch unzulässig, vom
    Arbeitnehmer bei Vertragsverhandlungen die Offenbarung seiner Religion zu fordern, um z.B. Gebetspausen vertraglich durchzusetzen. Da schon kein Fragerecht des Arbeitgebers besteht, ist auch eine
    Offenbarungspflicht des Arbeitgebers nicht gegeben.

    Im Ergebnis also hat Suleiman nicht auf seine Religionsausübung durch Schweigen oder Nichtregelung im Arbeitsvertrag verzichtet.

Textübernahmen aus den Arbeitsrechtsfolgen von Hans Gottlob Rühle:
Reine
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