Folge 340

Schutz der behinderten Menschen XI – Vermutung der Diskriminierung / Beweislastverschiebung


Frage:

Wie soll ich als Bewerber beweisen, dass der Arbeitgeber mich wegen meiner Behinderung nicht eingestellt hat oder benachteiligt und diskriminiert? In der Regel wird der Arbeitgeber doch nicht so dumm sein, meine Bewerbung mit Hinweis auf meine Diskriminierung abzulehnen.

Reichen vielleicht Hilfstatsachen und die Vermutung der Benachteiligung wegen Behinderung aus, um den Schadenersatzanspruch zu realisieren? Kann hier eine Beweislastumkehr zu Lasten des Arbeitgebers erfolgen?


Der Fall:

Arbeitgeber Gustav Hertz führt einen Elektrobetrieb.

Der schwerbehinderte Bewerber Philipp Otto Runge möchte einen Ingenieurposten erhalten, wird aber abgelehnt. Runge hat keine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch erhalten. Seine Bewerbungsunterlagen erhielt er ohne Begründung kommentarlos zurück, obwohl er in der Bewerbung auf seine Schwerbehinderung hingewiesen hat.

Der Vorsitzende der Schwerbehindertenvertretung Haile Selassie beschwert sich vehement, dass die Schwerbehindertenvertretung nicht darüber informiert wurde, dass sich schwerbehinderte Bewerber gefunden hatten. Weiter beschwert sich Selassie darüber, dass auch die Arbeitsagentur nicht eingeschaltet wurde und überhaupt nicht ernsthaft nach schwerbehinderten Bewerbern gesucht wurde.

Der Bewerber Ernest Hemingway ist zum Vorstellungsgespräch
geladen worden. Er ist Elektrotechniker. Die freie Stelle ist ebenfalls eine Technikerstelle. Der Arbeitgeber verlangt aber eine Ingenieursausbildung. Arbeitgeber Gustav Hertz fragte den Bewerber Hemingway nach
seiner Schwerbehinderung. Als dieser die Schwerbehinderung einräumte, winkte Hertz ab, gab Hemingway die Bewerbungsunterlagen und schickte ihn nach Hause.


Die Lösung


1. Neue Beweislastregel

In § 22 AGG hat der Gesetzgeber für alle Diskriminierungsfälle folgende neue Beweislastregel aufgestellt:

Wenn im Streitfall die benachteiligte Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen (Benachteiligung wegen Rasse, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexuelle Identität), so trägt die benachteiligende Partei die Beweislast dafür, dass keine rechtswidrige Diskriminierung vorgelegen hat. Hier trägt also dann der Arbeitgeber ausnahmsweise die Beweislast.

Der Gesetzgeber hat mit dieser Vorschrift eine Beweislastverschiebung bzw. eine Beweislastumkehr zu Lasten des Arbeitgebers
vorgenommen. Der Bewerber muss nur darlegen und notfalls beweisen, dass Tatsachen vorhanden sind, die eine Benachteiligung oder Diskriminierung vermuten lassen.

Schon bei Vorliegen einer Vermutung muss der Arbeitgeber einen Entlastungsbeweis führen. Gelingt ihm dies nicht, so muss er Schadenersatz oder Entschädigung/Schmerzensgeld zahlen. Eine Vermutung liegt dann vor, wenn der Arbeitnehmer oder der Bewerber das Gericht mit allgemeinen Beweismitteln von einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit für die Kausalität zwischen Schwerbehinderteneigenschaft und der Benachteiligung überzeugen kann.


2. Glaubhaftmachung/Vermutung

Die Vermutung einer Diskriminierung oder Benachteiligung wegen Schwerbehinderung nach dieser Vorschrift liegt jedoch nicht dann schon vor, wenn der klagende Bewerber nach § 294 ZPO eine Versicherung an Eides statt ablegt. Vielmehr muss der Kläger Hilfstatsachen darlegen und ggf. beweisen, die eine Benachteiligung wegen der Behinderteneigenschaft vermuten lassen. Das Gericht muss die Überzeugung einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit für die Kausalität zwischen der Behinderteneigenschaft und der Benachteiligung gewinnen.

Eine Entschädigungspflicht des Arbeitgebers besteht bereits dann, wenn der Arbeitgeber wichtige Pflichten im Bewerbungsverfahren verletzt hat. Dazu gehört insbesondere das Unterlassen bestimmter, vom Gesetz vorgesehenen Schritte im Rahmen der Bewerbungen von
schwerbehinderten Arbeitnehmern.


3. Fehlende Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung

Der Arbeitgeber ist verpflichtet, bei schwerbehinderten Bewerbern die Schwerbehindertenvertretung über die Bewerbung unmittelbar nach Eingang zu unterrichten (§ 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX) und sie dann weiterhin im Bewerbungsverfahren zu beteiligen.

Nach der Rechtsprechung lässt die Nichtbeteiligung der Schwerbehindertenvertretung auf eine Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung schließen. Der Gesetzgeber hat die
Schwerbehindertenvertretung ausdrücklich ermächtigt, in die Bewerbungsunterlagen auch der nicht behinderten Bewerber Einblick zu nehmen und an den Vorstellungsgesprächen aller Bewerber, egal ob schwerbehindert oder nicht, teilzunehmen (§ 178 Abs. 2 Satz  4 SGB IX).

Durch den Einblick in die Bewerbungsunterlagen und der Teilnahme an den Bewerbungsgesprächen soll die Schwerbehindertenvertretung die Möglichkeit haben, durch einen Vergleich der Qualifikationen
die benachteiligungsfreie Stellenbesetzung zu überprüfen.

Insbesondere dann, wenn der Arbeitgeber gegen die Unterrichtungspflicht über den Eingang einer Bewerbung eines schwerbehinderten Menschen verstößt, kann die Schwerbehindertenvertretung diese ihr gesetzlich zugewiesene Funktion nicht erfüllen. Schon dann spricht eine Vermutung für die Benachteiligung des schwerbehinderten Stellenbewerbers.


4. Nichteinschaltung der Arbeitsagentur

Der Arbeitgeber ist nach § 164 Abs. 1 Satz 2 SGB IX und nach § 165 SGB IX verpflichtet, die Bundesagentur für Arbeit oder einen Integrationsfachdienst/das Kreisjobcenter bei der Besetzung einer freien Stelle zu benachrichtigen. Nach § 165 SGB IX muss insbesondere auch der öffentliche Arbeitgeber frei werdende Stellen frühzeitig der Arbeitsagentur/dem Kreisjobcenter melden. Unterlässt der Arbeitgeber diese Benachrichtigungen, so kann auch hier schon die Vermutung der Benachteiligung eines schwerbehinderten Bewerbers gegeben sein.


5. Kein Vorstellungsgespräch

Der öffentliche Arbeitgeber ist nach § 165 SGB IX verpflichtet, schwerbehinderte Bewerber oder von der Bundesagentur vorgeschlagene schwerbehinderte Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen. Die Einladung ist nur dann entbehrlich, wenn die fachliche Eignung offensichtlich fehlt.

Auch hier kann bei einer Unterlassung das Indiz für eine Benachteiligung wegen Schwerbehinderung vorliegen.


6. Überzogene Qualifikationsanforderungen

Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist es zumindest dem öffentlichen Arbeitgeber verwehrt, bestimmte formale Ausbildungsqualifikationen zu verlangen, obwohl diese Qualifikationen objektiv sich aus den Anforderungen der Stelle nicht ergeben.

Wenn wie vorliegend vom Bewerber Hemingway für eine Technikerstelle eine Ingenieursausbildung gefordert wird, obwohl die Technikerbildung ausreicht, so wäre dies zumindest im Bereich des öffentlichen Dienstes ein Indiz für eine Benachteiligung wegen Schwerbehinderung.


7. Frage nach der Schwerbehinderung

Nach der früheren, nun überholten Rechtsprechung war im Vorstellungsgespräch die Frage nach der Schwerbehinderteneigenschaft zulässig. Nach der neuen Rechtsprechung des BAG ist aufgrund der Rechtslage, die durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz/AGG und  das Benachteiligungsverbots des § 164 Abs. 2 SGB IX geschaffen wurde, nicht mehr zulässig ist.

Nach § 164 Abs. 2 SGB IX dürfen Arbeitgeber schwerbehinderte Beschäftigte nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligen. Unter
Berücksichtigung der Europäischen Anti-Diskriminierungsrichtlinien und der Regeln des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes/AGG muss davon ausgegangen werden, dass dieses Benachteiligungsverbot für alle behinderten Menschen gilt, auch wenn sie nicht als Schwerbehinderte anerkannt sind.

Die wahrheitsgemäße Beantwortung der Frage nach der Schwerbehinderung bzw. Behinderung könnte im Einzelfall durchaus dazu führen, dass Bewerber nur wegen ihrer Schwerbehinderung vom Arbeitgeber nicht eingestellt werden. Deshalb ist mittlerweile klar, dass die Frage nach der Schwerbehinderung generell unzulässig ist und ein Indiz für eine Benachteiligung wegen Schwerbehinderung im Sinne der Schadenersatzvorschriften darstellt.

Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn eine Behinderung dazu führt, dass die
geforderte Tätigkeit nicht ausgeübt werden kann. Wenn von Anfang an die Erbringung der Leistung wegen der Behinderung nicht möglich ist, könnte die Frage nach der Schwerbehinderung noch zulässig sein.

Aus Gründen des Diskriminierungsschutzes ist es deshalb zulässig, dass die rechtswidrige Frage nach einer Behinderung bzw. Schwerbehinderung  im Vorstellungsgespräch falsch und damit wahrheitswidrig beantwortet werden darf. Es besteht insoweit ein Recht zur Lüge.

Eine Ausnahme von dieser Regel besteht nur dann, wenn die bewerbende Person von Anfang an weiß, dass sie die angebotene Tätigkeit wegen ihrer Behinderung nicht ausüben kann.

Wenn das Arbeitsverhältnis der schwerbehinderten Person länger als 6 Monate bestanden hat und der volle Schwerbehindertenschutz der §§ 168 ff SGB IX greift, ändert sich die Rechtslage. Falls dann der Arbeitgeber nach dem Bestehen einer anerkannten Schwerbehinderung fragen sollte, müsste die befragte Person diese Frage wahrheitsgemäß beantworten. Das Bedürfnis eines besonderen Schutzes vor Diskriminierung bei der Einstellung wäre dann ja entfallen. Die Arbeitgeberseite hätte dann ein berechtigtes Interesse daran, diese Tatsache zu erfahren, um evtl. sich gegen die Pflicht zur Zahlung einer Ausgleichsabgabe mangels Erfüllung der gesetzlichen Schwerbehindertenquote wehren zu können.

Allerdings besteht keine Pflicht der schwerbehinderten Menschen, von sich aus dem Arbeitgeber die Schwerbehinderteneigenschaft zu offenbaren.

 

Textübernahmen aus den Arbeitsrechtsfolgen von Hans Gottlob Rühle:
Reine
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