Frage:
Wenn die Lohnvereinbarungen wegen Sittenwidrigkeit oder Wuchers nichtig ist, muß der Arbeitgeber dann überhaupt etwas
bezahlen? Wenn ja, was muß er bezahlen?
Muß ich es mir eigentlich gefallen lassen, daß ich in einem Praktikum oder in einer langen Probezeit nichts oder fast nichts bezahlt bekomme?
Der Fall:
Arbeitgeber Leo Tolstoi beschäftigt in seiner Eisdiele den kränklichen Arbeitnehmer Franz Werfel. Da dieser froh ist,
seiner häuslichen Tristesse entfliehen zu können, ist Werfel mit einem Stundenlohn von 2 Euro einverstanden. Als er später sich auf Sittenwidrigkeit beruft, will Tolstoi gar nichts mehr bezahlen, da ja der
Vertrag nichtig sei.
Der Eisenwarenhändler Henry Ford braucht für seine Rechtsabteilung einen Juristen. Er bietet dem fertigen Assessor Joseph von Eichendorff ein unbezahltes Praktikum in der Rechtsabteilung
von einem Jahr an mit der Aussicht, später vielleicht ins Arbeitsverhältnis übernommen zu werden. Als Eichendorff nach einem Jahr gehen mußte, fragte er, ob er denn rückwirkend einen Jahreslohn verlangen könne.
Moses Mendelssohn und Caspar David Friedrich wollen Universitätsprofessoren werden. Sie promovieren bzw. habilitieren. Im Zuge der Lehraufträge verzichten sie „freiwillig“ auf ihre Vergütung, um überhaupt
die für die Habilitation notwendigen Lehrveranstaltungen zu bekommen. Ist die Vorgehensweise der Universität sittenwidrig?
Die Lösung:
1. Nichtigkeit der Vergütungsabrede – Rechtsfolge
Ist eine Vergütungsabrede oder ein Arbeitsvertrag in Teilen bei einer Gesamtbetrachtung unter Abwägung aller Umstände als
sittenwidrig anzusehen oder liegt Lohnwucher vor, so ist die sittenwidrige Abrede nach § 138 BGB nichtig.
Dies bedeutet aber nicht, daß der Arbeitgeber bei einem nichtigen Vertrag von der Gegenleistung frei
würde.
Vielmehr muß der Arbeitgeber in solchen Fällen nach § 612 Abs. 2 BGB die verkehrsübliche Vergütung in vollem Umfange bezahlen, die sich aus den Vergleichslöhnen ergibt.
§ 138 führt nicht zur
Gesamtnichtigkeit des Arbeitsvertrages, sondern nur zur Nichtigkeit des sittenwidrigen Teils, vor allem der Vergütungsvereinbarung. Die übliche Vergütung nach § 612 BGB ist entweder die in der Branche und der
Region übliche tarifliche Vergütung. Sollte ein Tarifvertrag üblicherweise nicht zur Anwendung kommen, so müßte die in anderen Arbeitsverhältnissen üblicherweise gezahlte Vergütung im Einzelnen ermittelt werden.
2. Praktikum / Volontariat / Trainee
In den letzten Jahren hat die Zahl der unbezahlten oder gering bezahlten Praktika oder Traineeprogrammen in deutlichem
Maße zugenommen.
Dies bedeutet im Ergebnis, daß vor allem junge Arbeitnehmer aus allen Bereichen, insbesondere aber Universitätsabsolventen eine Festanstellung nur noch dann erhalten, wenn sie zuvor ein
gering vergütetes oder gar unbezahltes Praktikum oder Traineeprogramm durchlaufen.
Es gibt mittlerweile sogar Arbeitgeber, die einen Großteil ihrer Arbeitsleistungen mit Praktikanten abdecken.
Achtung: Es
ist zu unterscheiden zwischen einem echten Praktikum und einem Scheinpraktikum, das in Wirklichkeit ein Arbeitsverhältnis darstellt. Ein echtes Praktikum liegt nur dann vor, wenn das Praktikum im Rahmen einer
Ausbildungsordnung vorgeschrieben ist. Ein Praktikum kann im Einzelfall auch dann vorliegen, wenn die praktische Kenntnis- und Wissensvermittlung im Vordergrund steht und Hauptanlaß für dieses Praktikum
darstellt. Die Kenntnis- und Wissensvermittlung muß jedoch über die bloße Einarbeitung und die Wissensvermittlung bei der Einarbeitung an einem neuen Arbeitsplatz hinausgehen.
In sehr vielen Fällen muß
festgestellt werden, daß bei den sogenannten Praktika jedoch die Erbringung der Arbeitsleistung im Vordergrund steht. Dies gilt auch dann, wenn ein Arbeitnehmer innerhalb der Probezeit über einen langen Zeitraum
unentgeltlich arbeiten soll.
Das Bundesarbeitsgericht hat die unentgeltliche Erbringung einer Arbeitsleistung bisher lediglich im Rahmen von sog. „Schnupperarbeitsverhältnissen“ zugelassen, die sich in der
Regel in einem Zeitraum von 1 bis max. 2 Wochen erstrecken.
Überwiegt bei dem sog. Praktikum die Arbeitsleistung die eigentliche Kenntnis- und Wissensvermittlung über einen längeren Zeitraum deutlich, so muß
vom Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses ausgegangen werden. Die im Rahmen der Praktikumsvereinbarung getroffene Vergütungsvereinbarung bzw. die Vereinbarung der Unentgeltlichkeit kann wegen Sittenwidrigkeit
nichtig sein.
Das bedeutet im Ergebnis, daß der Arbeitgeber nach § 612 Abs. 2 BGB dem Praktikanten die für diese Tätigkeit üblicherweise gezahlte Vergütung erstatten muß.
3. Ausbildungsverhältnisse
Oft sind mittlerweile auch in Ausbildungsverhältnissen unentgeltliche Praktika vorgeschaltet. Dies ist jedenfalls
problematisch.
Nach der Entscheidung eines Landesarbeitsgerichts ist eine Vereinbarung sittenwidrig, nach der vor Abschluß eines Ausbildungsvertrages ein länger als 6 Monate andauerndes unentgeltliches
Praktikum abzuleisten war. Bei diesem Praktikum stand auch letztendlich die Arbeitsleistung im Vordergrund.
Unerheblich ist es dabei, wie die Parteien die unentgeltliche Arbeitsleistung bezeichnen, ob als
Praktikum, als Volontariat oder als Trainee-Programm. Entscheidend ist stets der Inhalt der Vereinbarung bzw. die Erbringung der Arbeitsleistung.
4. Universitäten
Im Bereich des öffentlich-rechtlichen Sektors, insbesondere im Bereich der Hochschulen, gibt es besondere Regeln. In
zahlreichen Hochschulgesetzen der Länder gibt es Regelungen, wonach die Leistungserbringung von Lehrbeauftragten an Universitäten und Fachhochschulen unentgeltlich erfolgen kann, wenn der Lehrbeauftragte
„freiwillig“ auf seine Vergütung verzichtet.
Da in vielen Fällen, z.B. im Zusammenhang mit der Habilitation Lehrerfahrung zwingend vorgeschrieben oder jedenfalls erwünscht ist, kommt es vor, daß Universitäten
und Hochschulen die Notlage von Habilitanten oder Wissenschaftlichen Mitarbeitern insoweit ausnutzen.
Außerhalb des öffentlichen Dienstes müßten Arbeitgeber in solchen Fällen mit einer Einstufung der
Vereinbarung als sittenwidrig rechnen. Im Bereich der öffentlich-rechtlichen Vorschriften ist ein solches Vorgehen jedoch möglich und zulässig, da es sich bei der Ableistung der Lehraufträge nicht um
Arbeitsverhältnisse, sondern um öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse besonderer Art handelt.