Frage:
Jeder niedrig bezahlte Arbeitnehmer oder Geringbeschäftigte, aber auch viele Arbeitgeber fragen sich zu Recht, wo nun
eigentlich die Grenze zwischen einem sittenwidrigen und einem zulässigen Lohn liegen. Wann kann ich zum Arbeitgeber gehen und ihn darauf hinweisen, daß er sich in die Gefahr begibt, wegen Lohnwuchers vielleicht
bestraft zu werden?
Der Fall:
Musikalienunternehmer Arnold Schönberg muß unbedingt seinen Notenkeller entrümpeln lassen. Außerdem will er das Altpapier
beim Altwarenhändler Anselm Feuerbach noch zu Geld machen.
Schönberg stellt deshalb zur Entrümpelung die arbeitslosen Musikfreunde Clara Schumann und Maurice Chevalier ein. Er vereinbart mit ihnen folgendes:
Für jeweils 500 kg Noten, aus dem Keller geschafft, gebündelt und zum Altwarenhändler Anselm Feuerbach im Leiterwagen gefahren, bekommen beide eine Arbeitsstunde verrechnet, die mit 10 Euro brutto angesetzt
wird. Schönberg schätzt, daß 500 kg Noten in einer Stunde entrümpelt und weggebracht werden können.
Die zierliche Clara schafft aufgrund ihrer schwächeren körperlichen Verfassung wie500 kg einschließlich
Transport in 4 Stunden. Maurice Chevalier dagegen packt zu und schafft die Menge in 2 Stunden. Beide aber meinen, daß ein Stundenlohn von 2,50 Euro brutto bzw. 5 Euro brutto sittenwidrig sei.
Die Lösung:
1. Allgemeine Grundsätze
Eine arbeitsvertragliche Entgeltvereinbarung verstößt gegen den Wuchertatbestand oder die Guten Sitten, wenn ein
auffälliges Mißverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung vorliegt und die Vereinbarung nach Inhalt und Zwecksetzung gegen das Anstandsgefühl verstößt. Insbesondere liegt Lohnwucher vor, wenn die Zwangslage
eines Arbeitnehmers oder dessen Unerfahrenheit und Mangel an Urteilsvermögen ausgebeutet oder ausgenutzt wird.
Dabei ist die Sittenwidrigkeit einer Entgeltvereinbarung nicht alleine nach der vereinbarten
Entgelthöhe zu beurteilen. Es müssen vielmehr die Gesamtumstände, aber auch der Arbeitsvertrag in seiner Gesamtheit geprüft und gewertet werden.
2. Beginn der Sittenwidrigkeit
Da das Bundesarbeitsgericht zur Bestimmung der Sittenwidrigkeit eine Gesamtbewertung der Vereinbarung bei der Prüfung
zugrundelegt, kann nicht von einer allgemeinverbindlichen Prozentgrenze ausgegangen werden. Allerdings spricht ein starkes Indiz für Sittenwidrigkeit oder Lohnwucher, wenn die Vergütungshöhe 70 % bzw. 2/3 der
Vergütung eines vergleichbaren branchengleich beschäftigten Arbeitnehmers unterschreitet.
Zur Feststellung des vergleichbaren, üblichen Branchenlohnes kann der Tariflohn des jeweiligen Wirtschaftszweiges als
Richtgröße herangezogen werden. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Tariflohn in diesem Wirtschaftsgebiet üblicherweise gezahlt wird.
Entspricht der Tariflohn nicht der verkehrsüblichen Vergütung, liegt das
allgemeine Lohnniveau vielmehr unter Tarif, so ist bei der Ermittlung des Wertes der Arbeitsleistung von diesem allgemeinen niedrigeren Lohnniveau auszugehen.
Beträgt der vereinbarte oder tatsächlich gezahlte
Lohn dann weniger als 70 % bzw. 2/3 dieses Lohnniveaus, so befindet sich der Arbeitgeber mit seiner Lohnzahlung im kritischen Bereich.
Aus den Gesamtumständen kann sich aber auch ergeben, daß die Grenze höher
liegt. So hat das Bundesarbeitsgericht im Falle der Ersatzschulen entschieden, daß eine Lehrerbesoldung, die unter 75 % der Vergütung vergleichbarer Lehrkräfte an anderen Schulen liegt, sittenwidrig sei.
3. Auskömmliches Einkommen?
In der Diskussion wird immer wieder die Frage aufgeworfen, ob ein Lohn dann sittenwidrig ist, wenn trotz Vollzeitbeschäftigung
ein auskömmliches Einkommen nicht erzielt werden kann, wenn also ein Vollzeitarbeitnehmer seine Familie nicht mehr ernähren kann.
Diese Frage ist bisher höchstrichterlich noch nicht entschieden worden. Der Ansatz
ist möglicherweise auch falsch, da die Familien unterschiedlich groß sein können und die Frage der Bedürfnisse und des auskömmlichen Einkommens individuell höchst unterschiedlich beurteilt werden.
Schließlich ist
eine Vergütung nur dann nach § 138 BGB sittenwidrig, wenn das Entgelt mit der erbrachten Arbeitsleistung in einem groben Mißverhältnis steht. Bei dieser Beurteilung hat der Gesetzgeber nicht auf die
Lebenshaltungskosten abgestellt. Es ist deshalb vor einer solchen Argumentation zu warnen.
4. Sozialhilfeniveau/Hartz IV
Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kann zur Feststellung eines auffälligen Mißverhältnisses zwischen
Leistung und Gegenleistung nicht auf einen bestimmten Abstand zwischen dem Arbeitsentgelt und dem Sozialhilfesatz oder dem Hartz IV-Satz abgestellt werden. Ob das vom Arbeitgeber für eine bestimmte Tätigkeit
entrichtete Arbeitsentgelt in einem krassen Mißverhältnis zur erbrachten Arbeitsleistung steht, hängt vom Wert der Arbeitsleistung und nicht von den Ansprüchen aus Hartz IV oder von der Sozialhilfe ab.
Die
Sozialhilfe und Hartz IV knüpfen an eine wirtschaftliche Bedürfnislage an mit anderen Faktoren, als das Arbeitsentgelt.
Ebenso wenig kann nach der BAG-Rechtsprechung aus den Pfändungsgrenzen des § 850 c ZPO
auf ein Mißverhältnis zwischen der Leistung und Gegenleistung im Arbeitsverhältnis geschlossen werden. Die Vorschriften des Pfändungsschutzes bezwecken den Schutz des Schuldners vor einer Kahlpfändung und sollen
dem Arbeitnehmer ein menschenwürdiges Leben trotz einer Lohnpfändung ermöglichen. Beim Pfändungsschutz bleibt deshalb der Wert der Arbeitsleistung an sich unberücksichtigt.