Frage:
Darf der Arbeitgeber die Arbeitsvergütung soweit reduzieren, wie er es möchte, oder wie er es wirtschaftlich für vertretbar hält? Muß ich mir Lohnreduzierungen gefallen lassen oder habe ich bei einer
Vollzeitbeschäftigung einen Anspruch auf einen auskömmlichen Lohn?
Diese Fragen stellen sich gerade heute, wo in der Politik um die Einführung eines Mindestlohnes gerungen wird und andererseits die Politik den
Verweis auf Gerichte tätigt bzw. ein neues Gesetz gegen sittenwidrige Löhne plant.
Was aber ist ein sittenwidriger Lohn oder eine Wuchervergütung?
Der Fall:
Der Gemüsehändler Caligula beschäftigt den vormals arbeitslosen Notendekorateur Engelbert Humperdinck als Gemüseschlepper, Fahrer, Marktschreier und Verkäufer. Caligula zahlt volle 4,50 Euro brutto pro Stunde.
Der mit 40 Wochenstunden vollzeitbeschäftigte Humperdinck erreicht somit einen Monatslohn von 780 Euro brutto.
Die Friseursaloninhaberin Maria Montessori beschäftigt die gelernte Friseurin Alma Mahler-Werfel.
Sie zahlt ihr pro Kundin den Satz von 3,50 Euro. Bei regem Kundenandrang erreicht Alma so ein Monatseinkommen von ca. 600 Euro brutto.
Als beide Mitarbeiter sich beschweren, verweist Caligula darauf, daß er
sich auch einen Rumänen für 4 Euro die Stunde nehmen könnte. Maria Montessori verweist darauf, daß Alma schließlich noch zusätzlich Trinkgelder von ihren Kundinnen kassiert.
Die Lösung:
1. § 138 BGB
Der Gesetzgeber hat in § 138 Abs. 1 BGB bestimmt, daß ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, nichtig ist.
Der Gesetzgeber hat weiter in § 138 Abs. 2 den Unter- oder Spezialfall der
Sittenwidrigkeit, nämlich den Wucher bzw. den Lohnwucher geregelt.
2. Sittenwidrigkeit
Sittenwidrig im Sinne der gesetzlichen Vorschrift ist ein Vertrag oder ein Rechtsgeschäft, das zunächst ein auffälliges Mißverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung beinhaltet. Dieses Mißverhältnis ist
jedoch nicht alleine an einer Regelung des Vertrages festzumachen, z.B. alleine an der Vergütungsregelung bzw. der Höhe des Entgeltes. Vielmehr ergibt sich die Sittenwidrigkeit aus einer Gesamtbetrachtung des
Vertrages unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts, aber auch von Sinn und Zweck des Rechtsgeschäftes her.
Beispiel: Es ist z.B. vorstellbar, daß Arbeitgeber Caligula dem Humperdinck nur 4,50 Euro brutto
pro Stunde zahlt, gleichzeitig dem Mitarbeiter aber eine Reihe von bezahlten Pausen einräumt oder besondere Gratifikationen, Weihnachts- oder Urlaubsgeld oder auf dessen Wunsch einen besonders hohen
Urlaubsanspruch gewährt.
Ein Arbeitsvertrag ist nach § 138 Abs. 1 BGB insbesondere dann sittenwidrig, wenn er nach Inhalt, Beweggrund der Beteiligten und nach seiner Zwecksetzung gegen das Anstandsgefühl
aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Darüber hinaus ist erforderlich, daß den Vertragspartnern oder dem bestimmenden Vertragspartner diesen Widerspruch in dem Rechtsgeschäft mit dem Anstandsgefühl zum
Vorwurf gemacht werden kann.
Es ist nicht wesensnotwendig, daß der Verantwortliche, z.B. der Arbeitgeber, sich der Sittenwidrigkeit seines Tuns bewußt ist. Es reicht völlig aus, daß er die Gesamtumstände
kennt oder sich der Kenntnis böswillig bzw. in grober Weise fahrlässig verweigert.
3. Fallgruppen
Ein Verstoß gegen die Guten Sitten kann insbesondere dann vorliegen, wenn die gezahlte Vergütung weit unter der marktüblichen Vergütung liegt, wenn ein Vertragspartner in seiner Freiheit der Berufswahl oder
seiner wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit übermäßig eingeschränkt wird, wenn der Arbeitnehmer durch erhebliche wirtschaftliche Verluste gezwungen ist, in einem Arbeitsverhältnis mit geringer Vergütung zu
verbleiben, wenn der Arbeitgeber das Betriebs- oder Wirtschaftsrisiko übermäßig auf den Arbeitnehmer überträgt oder der Arbeitnehmer bei Kündigung erhebliche Schadenersatz- oder Ausgleichszahlungen an den
Arbeitgeber zu leisten hätte.
Sittenwidrig kann auch eine Vertragsstrafenabrede sein, die den Arbeitnehmer übermäßig belastet und von einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses abhält.
4. Lohnwucher
– Nach § 138 Abs. 2 BGB liegt ein nichtiges Rechtsgeschäft vor, wenn jemand unter Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche eines anderen
sich oder einem Dritten für eine Leistung Vermögensvorteile versprechen oder gewähren läßt, die in einem auffälligen Mißverhältnis zu der Leistung stehen.
– Lohnwucher liegt insbesondere dann vor, wenn ein
Arbeitnehmer verpflichtet ist, gegen eine unverhältnismäßig niedrige Vergütung zu arbeiten oder wenn er bei einer durchschnittlichen Vergütung viele zusätzliche Verpflichtungen übernehmen muß.
– Lohnwucher
kann aber auch dann vorliegen, wenn jemand trotz angemessener Arbeitsleistung nicht in der Lage ist, für sich und seine Familie den notwendigen Unterhalt zu verdienen oder wenn ein Arbeitnehmer während einer
langen Probezeit unentgeltlich arbeiten muß.
5. Strafbarkeit
Wucher, so wie er auch in § 138 Abs. 2 BGB definiert ist, ist nach § 291 Abs. 1 Strafgesetzbuch strafbar mit einer Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren oder Geldstrafe.
Darunter fällt auch der Tatbestand des
Lohnwuchers, der nach § 291 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Strafgesetzbuch bestraft wird. Ein besonders schwerer Fall des Lohnwuchers liegt nach § 291 Abs. 2 Strafgesetzbuch vor, wenn der Täter durch den Lohnwucher den
anderen in wirtschaftliche Not bringt bzw. die Tat gewerbsmäßig begeht. Hier droht eine Freiheitsstrafe bis zu 10 Jahren.
Achtung: Arbeitgeber, die Niedrigstlöhne bezahlen, müssen deshalb nicht nur damit
rechnen, daß sie den Arbeitnehmern entsprechende Lohnbeträge nachzahlen müssen. Vielmehr sind eine Reihe von Arbeitgebern bereits an den Strafgerichten wegen Lohnwuchers auch strafrechtlich belangt und
verurteilt worden.
Beispiel: Der BGH hat in seinem Urteil vom 22.4.1997 die Verurteilung eines Bauunternehmers bestätigt, der zwei Maurer mit einem Bruttostundenlohn von 12,70 DM entlohnte, statt den
Tariflohn für Maurer in Höhe von 19,05 DM/Stunde zu zahlen. Den anderen Arbeitnehmern zahlte er bei gleicher Arbeit einen Stundenlohn von 21 DM brutto.