Folge 275

Arbeit auf Abruf II


Der Fall:

    Arbeitgeber Marcello Mastroianni stellt Fischkonserven her. Er ist vor allem in der Sardinenverarbeitung tätig. Da die Fangergebnisse sehr schwankend sind, möchte er bei seinen
    Fabrikarbeitern möglichst flexible Arbeitszeiten erreichen.

    Er stellt die arbeitslose Lucretia Borgia mit folgendem Vertrag ein: Feste Wochenarbeitszeit 30 Stunden, darüber hinaus ist Lucretia verpflichtet,
    je nach Sardinenanfall auf Aufforderung auch länger als 40 Wochenstunden zu arbeiten, neben Samstagen bei Erforderlichkeit auch an Sonn- und Feiertagen. Die freizeitliebende Lucretia ist damit eigentlich
    überhaupt nicht einverstanden. Um der Arbeitslosigkeit zu entfliehen, unterschreibt sie. Sie behält sich insgeheim aber eine rechtliche Überprüfung des Vertrags vor.

    Sardinenfilettierer Jakob Tintoretto ist
    laut Vertrag auch zuständig für die künstlerische Gestaltung der Fischkonservendosen. Nach dem Arbeitsvertrag hat er eine feste Wochenarbeitszeit von 38 Stunden, allerdings ist er vertraglich zur Ableistung von
    6 Überstunden/Woche verpflichtet, wenn die betrieblichen Belange es erfordern, insbesondere wenn überraschend ein neues Fischdosendesign vom Kunden verlangt wird.

    Betriebsrat Horatio Nelson ist wegen seines
    Mitbestimmungsrechtes überfordert. Wurden mit den Arbeitnehmern Überstunden vereinbart? Was ist Abrufarbeit? Wo besteht ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats?


Die Lösung


1. Mindestarbeitzeit

    § 12 Abs. 1 Satz 2 bestimmt für die Arbeit auf Abruf, daß die arbeitsvertragliche Vereinbarung eine bestimmte Dauer der wöchentlichen und der täglichen Arbeitszeit festlegen muß. Wenn
    die Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit nicht festgelegt ist, so gilt eine Arbeitszeit von mindestens 10 Stunden als vereinbart! Der Arbeitgeber muß dann generell 10 Stunden pro Woche bezahlen, egal ob er die
    Arbeitnehmerin zur Arbeit abgerufen hat oder nicht.

    Die Festlegung dieser Mindestdauer bzw. Mindestarbeitszeit soll den Arbeitnehmern einen Mindestschutz gewährleisten. Es soll insbesondere verhindert
    werden, daß der Arbeitgeber die Arbeitnehmer während des bestehenden Abruf-Arbeitsverhältnisses völlig schwankend und unterschiedlich oder überhaupt nicht zur Arbeitsleistung heranzieht (so die
    Gesetzesbegründung).


2. Inhaltskontrolle

    Die Arbeitnehmerin Lucretia Borgia ist mit der Vereinbarung einer flexiblen Arbeitszeit nicht zufrieden. Sie hat dieses Arbeitsangebot nur notgedrungen angenommen, weil der Arbeitgeber
    in seinem vorformulierten Arbeitsvertrag darauf bestanden hat.

    Die Inhaltskontrolle der vom Arbeitgeber vorformulierten arbeitsvertraglichen Regelungen richtet sich nach den §§ 305 ff. BGB. Nach der
    Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts enthält praktisch jeder vom Arbeitgeber vorformulierte oder in seinem Interesse abgeschlossene Arbeitsvertrag „Allgemeine Geschäftsbedingungen“ im Sinne dieser
    Vorschriften.

    Dies gilt insbesondere dann, wenn diese Verträge von den allgemeinen rechtlichen Regeln und den allgemeinen Verteilungsgrundsätzen abweichen.

    Gemäß § 307 Abs. 1 BGB sind Bestimmungen in
    Arbeitsverträgen unwirksam, wenn sie den Vertragspartner des Arbeitgebers entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen.

    Mit der Regelung im Vertrag von Lucretia Borgia weicht der
    Arbeitgeber Mastroianni von wesentlichen Grundsätzen des Arbeitsrechts ab. Durch die von ihm einseitig auf über 40 Stunden zu verlängernde Arbeitszeit verlagert der Arbeitgeber einen Teil seines Betriebs- und
    Wirtschaftsrisikos auf die Arbeitnehmerin Borgia. Diese Regelung weicht insbesondere von den Grundsätzen des Annahmeverzugs nach § 615 BGB ab. Danach muß das allgemeine Wirtschaftsrisiko vom Arbeitgeber alleine
    getragen werden. Hat er keine Arbeit für die Arbeitnehmerin, so muß er sie ggf. unter voller Bezahlung freistellen. Von diesem Risiko befreit sich Marcello Mastroianni durch die vereinbarte Arbeit auf Abruf.

    Es ist deshalb im Sinne des § 307 BGB zu prüfen, ob diese Abweichung von der Norm und die teilweise Übertragung des Betriebsrisikos auf die Arbeitnehmerin eine gegen das Gebot von Treu und Glauben verstoßende
    unangemessene Benachteiligung beinhaltet. In diesem Falle wäre die Regelung rechtsunwirksam.


3. Interessenabwägung

    Bei der Prüfung der Frage, ob eine unangemessene Benachteiligung vorliegt, müssen die berechtigten Interessen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer gegeneinander abgewogen werden.

    Arbeitgeber: Im Zeitalter der Globalisierung und Beschleunigung (just in time) hat der Arbeitgeber ein berechtigtes Interesse an einer gewissen Flexibilität der Arbeitsbedingungen. Die früher üblichen starren
    Arbeitszeitmuster sind mittlerweile kaum noch vollständig durchführbar. Sehr kurzfristige Auftragsschwankungen, Termine und Vorgaben erfordern flexible Arbeitszeitsysteme. Dem haben zahlreiche Tarifverträge und
    Betriebsvereinbarungen bereits Rechnung getragen. Es wäre falsch, in diesen Fällen den Arbeitgeber auf die Möglichkeit der Änderungskündigung zu verweisen. Das Kündigungsrecht ist zur schnellen, flexiblen
    Reaktion nicht bestimmt und nicht geeignet. Dem stehen schon alleine die Kündigungsfristen entgegen. Auf der anderen Seite kann es nicht im Sinne der Arbeitnehmer sein, bei Auftragsschwankung mit einer
    betriebsbedingten Änderungskündigung rechnen zu müssen.

    Arbeitnehmer: Andererseits muß berücksichtigt werden, daß die Arbeitnehmerin Lucretia ein berechtigtes Interesse an einer möglichst fest vereinbarten
    Dauer und Lage der Arbeitszeit hat. Hiervon hängt zum einen ihr zu erzielendes Monatseinkommen ab. Zum anderen hat Lucretia ein berechtigtes Interesse an Planungssicherheit für ihre Freizeitgestaltung und die
    Planung ihres Familienlebens.


4. Lösung

    Das Bundesarbeitsgericht hat zur Lösung dieses Interessenkonfliktes einen angemessenen Ausgleich der beiderseitigen Interessen gefordert. Das Gericht ist zu dem Ergebnis gekommen, daß
    die Vereinbarung der Abrufarbeit den Arbeitgeber berechtigt,

    einen Anteil von 25 % der vereinbarten Mindestarbeitszeit zusätzlich an abrufbarer Arbeitsleistung zu verlangen.

    25 % zusätzlich flexibler
    Arbeitszeit reiche aus, um dem Arbeitgeber ein hohes Maß an Flexibilität einzuräumen und um die Arbeitnehmerinteressen an einer berechenbaren Arbeitszeit zu wahren.

    Damit sei insbesondere dem Schutz des
    Arbeitnehmers vor einer geringen Mindestarbeitszeit und einem hohen variablen Arbeitszeitanteil Genüge getan.

    Beispiel: Bei einer Sockelarbeitszeit von 30 Wochenstunden beträgt die Abrufarbeit bis zu 7,5
    Wochenstunden zusätzlich, also insgesamt bis zu 37,5 Wochenstunden.

    Beträgt die vereinbarte Mindestarbeitszeit nur 15 Wochenstunden, so beläuft sich die zusätzlich abrufbare Arbeitsleistung nur 3,75 Stunden.

    5. Ergänzende Vertragsauslegung

    Der Arbeitsvertrag von Mastroianni und Borgia entspricht nicht den Grundsätzen des Bundesarbeitsgerichts, da der flexible Anteil mit mehr als 40 Wochenstunden zu hoch ist.
    Nach § 306 Abs. 1 BGB und der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts führt dies aber nicht zur Unwirksamkeit des Arbeitsvertrages, sondern zu einer ergänzenden Vertragsauslegung.

    Damit der Arbeitgeber 40
    Wochenstunden und mehr verlangen kann, muß die Sockelarbeitszeit 35 Wochenstunden betragen. Nach der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts war der Arbeitsvertrag von Mastroianni und Borgia deshalb dahingehend
    auszulegen, daß Mastroianni verpflichtet ist, der Arbeitnehmerin mindestens 35 Wochenarbeitsstunden zu bezahlen, unabhängig, ob er sie tatsächlich so lange beschäftigt. Er darf sie dann maximal bis zu 43,75
    Wochenstunden zur Arbeit abrufen.

    Dies verstößt auch nicht gegen das Arbeitszeitgesetz, das insgesamt 48 Wochenstunden zuläßt.

Textübernahmen aus den Arbeitsrechtsfolgen von Hans Gottlob Rühle:
Reine
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