Der Fall
Arbeitgeber Agamemnon ist nicht tarifgebunden. Gleichwohl hat er seit vielen Jahren in seinem Betrieb Tariflohn an alle Mitarbeiter gezahlt, egal ob sie
Gewerkschaftsmitglied waren oder nicht. Er hat auch seit Jahren immer wieder die tariflichen Lohnerhöhungen in vollem Umfang an die Mitarbeiter weitergegeben. Auf den Lohnabrechnungen taucht auch der Begriff
„Tariflohn“ auf.
Wegen wirtschaftlicher Probleme hat Agamemnon seit dem Jahr 2004 die gezahlten Löhne eingefroren. Er hat keine Tariferhöhung mehr weitergegeben.
Nunmehr klagt der Arbeitnehmer Odysseus
die Lohndifferenz zwischen den Tariflohnerhöhungen und dem gezahlten Lohn ein. Zur Begründung seines Erhöhungsanspruches beruft sich Arbeitnehmer Odysseus auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, wonach
bei freiwilliger Zahlung der Arbeitgeber durch betriebliche Übung nach dreimaliger Wiederholung gebunden sei.
Arbeitgeber Agamemnon meint, daß er wegen seines Entgegenkommens und seiner Gutmütigkeit nicht
bestraft werden dürfe.
Die Lösung
1. Tarifgeltung
Arbeitnehmer können Ansprüche aus Tarifverträgen nur dann vor Gericht durchsetzen, wenn der Tarifvertrag auch Inhalt des Arbeitsverhältnisses geworden ist
und im Arbeitsverhältnis rechtswirksam gilt. Dabei ist zu unterscheiden die normative Geltung eines Tarifvertrages und die vertragliche Geltung des Tarifvertrages.
a)
Normativ,
d.h. unmittelbar und zwingend wie ein Gesetz gilt ein Tarifvertrag im Arbeitsve
rhältnis nach § 4 Abs. 1 Tarifvertragsgesetz nur dann, wenn sowohl Arbeitnehmer wie auch der Arbeitgeber Mitglied bei den zuständigen Tarifvertragsparteien, d.h. dem zuständigen
Arbeitgeberverband und bei der zuständigen Gewerkschaft sind. In diesem Falle kann auf tarifliche Rechte noch nicht einmal verzichtet werden.
b)
Vertraglich
gilt der Tarifvertrag dann, wenn die Geltung genau bezeichneter Tarifverträge im
Arbeitsvertrag schriftlich vereinbart wurde. Die Geltung b
estimmter Tarifverträge kann auch mündlich vereinbart werden. Im Streitfall entstehen durch mündliche Vereinbarungen
jedoch oft erhebliche Beweisprobleme.
Fazit:
Wenn sich ein Arbeitnehmer auf tarifliche Vergütungsansprüche beruft, so braucht er stets eine Anspruchsgrundlage.
Dies kann der Tarifvertrag aufgrund normativer Wirkung oder aufgrund vertraglicher Vereinbarung sein.
2. Erklärungswert der Abrechnung
In Lohnabrechnungen wird immer wieder auf Tariflohn oder Tariflohnbestandteile Bezug genommen. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts enthalten
jedoch Lohnabrechnungen keine vertragliche Vereinbarung. Sie geben nur die Höhe der aktuellen Vergütung an. Sie dokumentieren lediglich den abgerechneten Lohn, sagen aber nichts aus über die Anspruchsgrundlage.
Selbst dann, wenn in der Abrechnung die Bezeichnung „Tariflohn“ auftaucht, geht daraus noch kein Anspruch und kein Indiz für eine entsprechende vertragliche Vereinbarung hervor.
3. Tarifgebundene Arbeitgeber
Tarifgebundene Arbeitgeber zahlen in ihrem Betrieb oder Unternehmen oft den Tariflohn an alle Mitarbeiter, auch wenn zumeist ein erheblicher Teil der
Mitarbeiter überhaupt nicht gewerkschaftlich organisiert ist. Die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer erhalten dann den Tariflohn nach § 4 Abs. 1 TVG aufgrund der gesetzlichen Verpflichtung des
Arbeitgebers.
Die übrigen, nicht gewerkschaftlich organisierten Mitarbeiter erhalten den Tariflohn nur aus Gründen der Gleichstellung. Die Zahlung des Tariflohns an die Nicht-Gewerkschaftsmitglieder begründet
jedoch bei diesen weder einen vertraglichen Anspruch, noch einen Anspruch aus betrieblicher Übung. Nach der BAG-Rechtsprechung kann in einem solchen Falle der Tarifbindung des Arbeitgebers keine betriebliche
Übung alleine aufgrund der regelmäßigen Tariflohnerhöhungen für Nichtgewerkschaftsmitglieder entstehen. Es ist nämlich anzunehmen, daß der Arbeitgeber einerseits gegenüber den Gewerkschaftsmitgliedern seinen
gesetzlichen Verpflichtungen aus dem Tarifvertrag Rechnung tragen wollte und andererseits die übrigen Arbeitnehmer nicht schlechter behandeln wollte, ohne eine vertragliche Pflicht zu begründen.
4. Verbandsaustritt
Der tarifgebundene Arbeitgeber kann durch Austritt aus dem tarifschließenden Arbeitgeberverband künftige Tariflohnerhöhungen vermeiden. Nach Ablauf der
Kündigungsfrist bleibt die Tarifgebundenheit nach § 3 Abs. 3 TVG noch bestehen, bis der Tarifvertrag endet. Die Laufzeit von Vergütungstarifverträgen erstreckt sich in der Regel auf 12 bis 18 Monate. Dann ist
der Arbeitgeber nicht mehr verpflichtet, Tariflohnerhöhungen aus neuen Tarifverträgen weiterzugeben.
Dies gilt nicht nur hinsichtlich der tarifgebundenen, gewerkschaftsangehörigen Mitarbeiter. Die Befreiung
von der Weitergabe einer Tariferhöhung bezieht sich dann auch auf die restlichen Mitarbeiter, da diese weder durch Arbeitsvertrag noch durch betriebliche Übung einen Erhöhungsanspruch erworben haben.
5. Keine betriebliche Übung
Entgegen der Ansicht von Odysseus darf ein Arbeitnehmer die Erhöhung der Vergütung entsprechend der Tarifentwicklung bei einem nicht tarifgebundenen
Arbeitgeber nicht als Versprechen verstehen, sich für alle Zukunft zu Tariflohnerhöhungen zu verpflichten. Eine Verpflichtung des nicht tarifgebundenen Arbeitgebers zu zukünftigen Tariflohnerhöhungen findet nur
dann statt, wenn dies vom Arbeitgeber ausdrücklich und klar gegenüber den Mitarbeitern erklärt worden ist. Dies ist z.B. dann der Fall, wenn dies klar im schriftlichen Arbeitsvertrag geregelt wurde.
Ein nicht
gebundener Arbeitgeber will sich nämlich im Normalfall nicht grundsätzlich und für alle Zukunft der Regelungsmacht der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände unterwerfen. Er ist vielmehr gerade deshalb nicht
Mitglied im Arbeitgeberverband, weil er sich für die Zukunft die Freiheit bewahren will, seine Lohngestaltung nach den allgemeinen arbeitsrechtlichen Regeln und nach seinen betrieblichen Gegebenheiten ausrichten
zu können. Dies muß ein verständiger Arbeitnehmer erkennen, er darf sich deshalb nicht auf eine betriebliche Übung zur Tariflohnerhöhungen verlassen.
Würde der nicht gebundene Arbeitgeber ohne klare
Versprechungen oder Vereinbarungen zu zukünftigen Tariflohnerhöhungen gezwungen, so würde er sich sogar schlechter stellen, als ein tarifgebundener Arbeitgeber, der die Möglichkeit zum Austritt aus dem
Arbeitgeberverband nutzen kann. Eine solche Möglichkeit hat der nicht gebundene Arbeitgeber nicht. Auch dies muß der Arbeitnehmer Odysseus erkennen und bei der Prüfung seiner Ansprüche berücksichtigen.
Die Klage von Odysseus war deshalb abzuweisen.
6. Freiwillige Zahlungen
Odysseus verweist zu Recht auf die Rechtsprechung, wonach bei freiwilligen Leistungen und Gratifikationen eine mehrmalige vorbehaltlose Leistung durch den
Arbeitgeber zu einem Versprechen und damit zu einem Anspruch führen kann. Diese Rechtsprechung bezieht sich jedoch nicht auf die allgemeinen Lohnleistungen, sondern auf Zusatzleistungen wie
Weihnachtsgrafitikation und Urlaubsgeld.