Der Fall:
Arbeitnehmer Muhammed Ali ist beim Autohersteller Blechle an einer Fertigungsstraße beschäftigt. Die Frühschicht beginnt um 6 Uhr.
Muhammed begehrt
für die Zeit zwischen 6 Uhr und 8 Uhr morgens eine Freistellung von 3 Minuten, um ein Morgengebet verrichten zu können. Arbeitgeber Blechle verweigert dies. Er begründet dies damit, daß unzumutbare betriebliche
Störungen durch die Unterbrechung entstehen könnten, da die Fertigungsstraße dann 3 Minuten stillstehe. Er verweist auf das Direktionsrecht und darauf, daß in der Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeit keine
Gebetspausen vorgesehen sind. Außerdem habe Muhammed das Problem von Anfang an gekannt und trotzdem die Arbeit begonnen.
Muhammed Ali beruft sich dagegen auf seine Gewissensfreiheit, die nach Art. 4 Abs. 2 GG
auch für Muslime bestehe. Er fordert vom Arbeitgeber organisatorische Maßnahmen, um die Gebetszeit zu gewährleisten.
Arbeitgeber Blechle meint, daß eine solche organisatorische Maßnahme bei noch weiteren 50
Muslimen in der Firma nicht möglich sei. Sonst müßten ca. 500 andere Arbeitnehmer ebenfalls für 3 Minuten ihre Arbeit unterbrechen.
Wer hat recht?
Die Lösung:
1. Direktionsrecht des Arbeitgebers
Mit Abschluß des Arbeitsvertrages unterwirft sich der Arbeitnehmer grundsätzlich dem Direktionsrecht des Arbeitgebers für die gesamte Dauer der
Arbeitszeit. Das Direktionsrecht ermöglicht es Arbeitgeber Blechle, die Arbeitspflicht des Arbeitnehmers Muhammed im einzelnen nach Zeit, Art und Ort zu bestimmen. Beschränkungen könnten sich nur aus dem Gesetz,
Tarifvertrag, einer Betriebsvereinbarung oder dem Arbeitsvertrag ergeben.
2. Betriebsvereinbarung
Eine Betriebsvereinbarung über die Arbeitszeit und die Arbeitspausen besteht. Darin ist jedoch unstreitig keine Gebetspause vorgesehen. Auch im
Arbeitsvertrag ist eine entsprechende Einschränkung bei der Einstellung von Muhammed nicht gemacht worden.
3. Recht auf Religionsausübung
Art. 4 Abs. 2 Grundgesetz (GG) gibt jedem in Deutschland lebenden Menschen das Recht auf ungestörte Religionsausübung. Darunter fällt auch das
Durchführen von Gebeten.
Nach § 616 Abs. 1 BGB in Verbindung mit § 242 BGB hatte der Arbeitgeber eine nur verhältnismäßig geringfügige Arbeitsverhinderung zu dulden, wenn dies ihm im Rahmen der
Interessenabwägung zumutbar ist. Unter diese Duldungspflicht kann auch die Erfüllung einer vorrangigen religiösen Verpflichtung und die ungestörte Religionsausübung im Sinne des grundgesetzlichen Schutzbereiches
zählen.
Für diese Duldungspflicht des Arbeitgebers ist es unerheblich, ob das Morgengebet von der Religion zwingend vorgeschrieben ist, oder vom Gläubigen als verbindliche Handlung angesehen wird. Der
Islamrat hat auf Auskunft mitgeteilt, daß es sich bei dem Frühgebet um ein Pflichtgebet handelt, das in die Gewissensentscheidung des einzelnen Gläubigen gestellt ist.
4. Verzicht auf das Grundrecht?
Die Rechtsprechung hat verschiedentlich einen Verzicht des Arbeitnehmers auf bestimmte Grundrechte angenommen, wenn der Arbeitnehmer beim Abschluß des
Arbeitsvertrags damit rechnen mußte, daß die ordnungsgemäße Erfüllung des Vertrages mit seinen Glaubens- oder Gewissenspflichten kollidieren kann. Dies gilt z.B. für Pazifisten, die sich auf einen Arbeitsplatz
in der Rüstungsindustrie beworben haben.
Ein solcher Verzicht auf das Grundrecht ist weitgehend. Es müssen deshalb entsprechende konkrete Anhaltspunkte vorliegen. Arbeitnehmer Muhammed mußte bei der
Einstellung nicht zwingend damit rechnen, daß sein kurzes Morgengebet vom Arbeitgeber grundsätzlich verweigert wird. Von einem Verzicht kann deshalb nicht ausgegangen werden.
5. Grundrechtekollision
Nicht nur Muhammed Ali ist Grundrechtsträger, auch Arbeitgeber Blechle hat diverse Grundrechte ins Feld zu führen, nämlich Schutzrechte aus Art. 2
Abs. 1 GG., Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 14 Abs. 1 GG. Er hat das Recht auf Handlungsfreiheit, auf Berufsfreiheit und den Eigentumsschutz sowie das Recht am ausgeübten Gewerbebetrieb, das dem Grundrecht des
Arbeitnehmers auf Religionsausübung gegenübersteht. Es liegt also eine Grundrechtekollision vor.
6. Unzumutbare Betriebsablaufstörung
Im Falle einer Grundrechtekollision ist zwischen den einzelnen Grundrechten und der Zumutbarkeit abzuwägen.
Soweit die betrieblichen
Beeinträchtigungen durch das kurze Morgengebet geringfügig oder sich organisatorisch in zumutbarer Weise auffangen lassen, geht das Recht auf ungestörte Religionsausübung den Rechten des Arbeitgebers vor.
Muhammed Ali hat recht, daß der Schutz der Gewissensfreiheit für alle Religionen, egal ob Christen, Muslime, Hinduisten etc. gilt. Allerdings gilt die Religionsfreiheit nicht uneingeschränkt, da immer die Rechte
der anderen abgewogen werden müssen.
Soweit das Morgengebet zu einem Stillstand der Fertigungsstraße führt und anderweitig nicht wirtschaftlich nicht sinnvoll und zumutbar aufgefangen werden kann, ist
Arbeitgeber Blechle nicht verpflichtet, die Betriebsablaufstörung hinzunehmen.
Arbeitgeber Blechle hat zu prüfen, inwieweit dem Mitarbeiter Muhammed Ali entgegengekommen werden kann. Er muß jedoch keine
erheblichen wirtschaftlichen oder organisatorischen Beeinträchtigungen hinnehmen. Dies gilt vor allem auch deshalb, weil sich der Arbeitnehmer mit dem Vertragsschluß grundsätzlich unter das Direktionsrecht des
Arbeitgebers unterworfen hat.
Bei entsprechenden Betriebsablaufstörungen ohne zumutbare Ausgleichsmöglichkeit muß deshalb der Grundrechtsschutz von Muhammed Ali nach Art. 4 Abs. 2 GG zurückstehen. Er muß den
Weisungen des Arbeitgebers Folge leisten und sein Morgengebet unterlassen. Andernfalls riskiert er eine Abmahnung und Kündigung.