Folge 56

Neue Zeugnisrechtsprechung II


Der Fall:

    Reeder Poseidon entließ nach vielen Schiffsreisen die beiden Leichtmatrosen Herkules und Odysseus. Auf Verlangen stellte er ihnen ein Zeugnis aus.

    Herkules erhielt inhaltlich ein
    Spitzenzeugnis mit Lobpreisungen. In der Bewertung allerdings beschränkte sich Poseidon auf die Bewertung „zur vollen Zufriedenheit“.

    Dem raffinierten Odysseus traute Poseidon nicht. Deshalb gab er ihm die
    Note „stets zur vollen Zufriedenheit“. Allerdings bescheinigte er Odysseus, daß er bestrebt war, den üblichen Arbeitsanfall zu bewältigen und im allgemeinen positiv auf Motivationsmaßnahmen reagierte.
    Schließlich führte er aus: „Zeitweise schien er das Schiff mit einer beschützenden Werkstätte für Müßiggänger zu verwechseln“. Odysseus ist empört und möchte die noch bessere Bewertung „stets zur vollsten
    Zufriedenheit“. Er möchte im übrigen dem Arbeitgeber alle Formulierungen vorschreiben. Auch Herkules möchte seine Benotung etwas verbessern.

    Der harmoniebedürftige Poseidon ist betrübt.


Die Lösung:


5. Die „Zufriedenheitsskala“

    Die Zeugnisse von Herkules und Odysseus enthalten die Formulierung „zur vollen Zufriedenheit“ und „stets zur vollen Zufriedenheit“. Odysseus möchte eine Formulierung „stets zur vollsten
    Zufriedenheit“.

    Empirische Untersuchungen zeigen, daß diese Zufriedenheitsformen mittlerweile in mehr als 80 % aller Zeugnisse verwandt werden. Da hier Arbeitgeber Poseidon das übliche Beurteilungssystem
    benutzt hat, muß er auch die Benotungskriterien wählen, die dann der Üblichkeit entsprechen.

    Dabei enthält der Begriff „Zufriedenheit“ eine Bewertung, die vom üblichen Sprachgebrauch abweicht. Zufriedenheit
    in diesem Sinne entspricht nicht der subjektiven Zufriedenheit des Arbeitgebers mit der Arbeitsleistung. Zufriedenheit im Zeugnis bedeutet im allgemeinen eine ausreichende Leistung und damit eine Unzufriedenheit
    des Arbeitgebers. Neben der eigentlichen Zufriedenheit gibt es dann Zusätze, die die Benotung anheben sollen:

    – zur Zufriedenheit = ausreichend,

    – stets zur Zufriedenheit = befriedigend,

    – zur vollen Zufriedenheit = gutes Befriedigend, gehobenes Befriedigend,

    – stets zur vollen Zufriedenheit = gut, gehobener Durchschnitt,

    – zur vollsten Zufriedenheit = gut bis sehr gut,

    – stets zur vollsten Zufriedenheit = sehr gut.

    Diese Benotungsskala entspricht in etwa den Gepflogenheiten, ohne daß es dafür gesetzliche oder überzeugende Festlegungen gäbe.


6. Beweislast bei Benotung

    Das Bundesarbeitsgericht hat sich in der letzten Zeit intensiver mit der Frage befaßt, wer bei Streit über die Benotung die Darlegungs- und Beweislast trägt.

    Dabei kam das Bundesarbeitsgericht zu folgendem Grundsatz:

    Der Arbeitgeber trägt die Beweislast, wenn er nur eine unterdurchschnittliche Leistung bescheinigen will. Will der Arbeitnehmer für sich eine
    überdurchschnittlich gute Leistungsbewertung erhalten, so muß er im Streitfall diese besonders gute Leistung darlegen und beweisen.

    Als gute und gehobene Durchschnittsnote sieht das Bundesarbeitsgericht die
    Beurteilung:


    „stets zur vollen Zufriedenheit“


    an.

    Will der Arbeitgeber unter diese Benotung gehen, muß er im Streitfall die Berechtigung der schlechteren Note beweisen. Will der Arbeitnehmer über
    diese Benotung hinausgehen, muß der Arbeitnehmer im Streitfalls eine bessere Leistung nachweisen.

    Arbeitgeber Poseidon hat dem Herkules nur „zur vollen Zufriedenheit“ bescheinigt. Da Herkules dies beanstandet
    hat, muß im Prozeßfall der Arbeitgeber eine unterdurchschnittliche Leistung nachweisen.

    Odysseus hat die gehobene Benotung „stets zur vollen Zufriedenheit“ bekommen. Will er eine bessere Benotung,
    insbesondere „stets zur vollsten Zufriedenheit“, so muß er nachweisen, daß seine Leistung herausragend und damit „sehr gut“ war. Er hat alle Tatsachen vorzutragen, aus denen sich sein gehobener Zeugnisanspruch
    ergeben könnte.


7. Berichtigungsanspruch

    Ist der Arbeitnehmer mit dem erteilten Zeugnis nicht einverstanden, so kann er vom Arbeitgeber außergerichtlich und auch gerichtlich dessen Berichtigung oder auch Ergänzung verlangen.
    Nach ständiger Rechtsprechung hat der Arbeitgeber mit einem falschen Zeugnis den gesetzlichen und vertraglichen Zeugnisanspruch des Arbeitnehmers nicht erfüllt. Mit dem Zeugnisberichtigungsanspruch klagt der
    Arbeitnehmer deshalb noch einmal auf Erfüllung seines Zeugnisanspruches. Hat der Arbeitnehmer recht, so muß der Arbeitgeber durch Urteil verpflichtet werden, eine entsprechende Beurteilung in das Zeugnis
    aufzunehmen.


8. Beurteilungsspielraum

    Bei allen Zeugnisstreitigkeiten muß berücksichtigt werden, daß der Arbeitgeber gerade bei der Benotung nach ständiger Rechtsprechung einen Beurteilungsspielraum hat, der ihm weder vom
    Arbeitnehmer, noch vom Arbeitsgericht genommen werden darf. Im Ergebnis ist somit der Prüfungsmaßstab und die Überprüfungsmöglichkeit durch das Gericht entsprechend eingeschränkt zu sehen. Das Gericht darf
    seinen eigenen Bewertungsmaßstab nicht an die Stelle des Beurteilungsspielraums des Arbeitgebers setzen.


9. Keine Widersprüchlichkeiten

    Wichtig ist jedoch nicht nur die Benotung. Ähnlich wichtig ist es, daß das Zeugnis in sich nicht widersprüchlich ist und keine anstößigen Formulierungen enthält.

    Arbeitgeber Poseidon
    hat dem Mitarbeiter Herkules ein Spitzenzeugnis gegeben, mit einer leicht unterdurchschnittlichen Benotung. Das geht nicht. Entweder enthält das Spitzenzeugnis auch eine Spitzenbenotung oder das Zeugnis muß
    abgeschwächt werden.


    Achtung: Übertrieben gute Zeugnisse können schädlicher sein, als mittelmäßige Zeugnisse. Hier ist Vorsicht geboten und Distanz zur eigenen Eitelkeit!


    Andererseits stellen auch
    die Negativäußerungen im Zeugnis von Odysseus einen nicht hinzunehmenden Widerspruch dar. Der Arbeitgeber verstößt damit auch gegen den Grundsatz des Wohlwollens. Das Zeugnis muß neu ausgestellt werden. Sollte
    die Beurteilung „stets zur vollen Zufriedenheit“ bestehen bleiben, so muß der Begleittext auch dieser Benotung entsprechen.


10. Schlußformel

    Wollen Herkules und Odysseus ein wirklich gutes Zeugnis haben, so sollten sie den Arbeitgeber dazu bewegen, ihnen eine nicht einklagbare und gerichtlich nicht durchsetzbare Schlußformel
    zu bescheren, wie z.B. „wir bedauern das Ausscheiden des Mitarbeiters sehr“, oder „der Mitarbeiter hat für die Firma viel geleistet. Sein Ausscheiden bedauern wir. Er kann jederzeit zu uns zurückkehren“, oder
    „wir wünschen dem Mitarbeiter beruflich und persönlich für die Zukunft alles Gute und viel Erfolg“.

Textübernahmen aus den Arbeitsrechtsfolgen von Hans Gottlob Rühle:
Reine
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