Folge 55

Neue Zeugnisrechtsprechung I


Der Fall

    Reeder Poseidon entließ nach vielen Schiffsreisen die beiden Leichtmatrosen Herkules und Odysseus. Auf Verlangen stellte er ihnen ein Zeugnis aus.

    Herkules erhielt inhaltlich ein
    Spitzenzeugnis mit Lobpreisungen. In der Bewertung allerdings beschränkte sich Poseidon auf die Bewertung „zur vollen Zufriedenheit“.

    Dem raffinierten Odysseus traute Poseidon nicht. Deshalb gab er ihm die
    Note „stets zur vollen Zufriedenheit“. Allerdings bescheinigte er Odysseus, daß er bestrebt war, den üblichen Arbeitsanfall zu bewältigen und im allgemeinen positiv auf Motivationsmaßnahmen reagierte.
    Schließlich führte er aus: „Zeitweise schien er das Schiff mit einer beschützenden Werkstätte für Müßiggänger zu verwechseln“. Odysseus ist empört und möchte die noch bessere Bewertung „stets zur vollsten
    Zufriedenheit“. Er möchte im übrigen dem Arbeitgeber alle Formulierungen vorschreiben. Auch Herkules möchte seine Benotung etwas verbessern.

    Der harmoniebedürftige Poseidon ist betrübt.


Die Lösung:


1. Qualifiziertes Zeugnis

    Der Anspruch auf ein qualifiziertes Arbeitszeugnis durch den Arbeitgeber ist zwischen den Parteien nicht streitig. Er ergibt sich mittlerweile aus § 109 Gewerbeordnung. Danach muß das
    Zeugnis Angaben zur Art und Dauer der Tätigkeit sowie über Leistung und Verhalten im Arbeitsverhältnis enthalten. Etwas anderes gilt nur, wenn lediglich ein einfaches Zeugnis (Art und Dauer der Tätigkeit)
    verlangt wird.


2. Zeugniszweck

    Das Zeugnis dient nicht dazu, dem Arbeitgeber zu helfen, dem Mitarbeiter noch einmal die Meinung zu sagen. Es dient auch nicht dem Ego und dem Narzißmus einzelner Arbeitnehmer. Es soll
    kein Spiegel für Selbstbewunderungszwecke sein.

    Vielmehr dient das Zeugnis dem Arbeitnehmer regelmäßig als Bewerbungsunterlage und zur Vorlage gegenüber Dritten. Es soll künftigen Arbeitgebern bei
    Bewerbungen eine Grundlage für ihre Personalauswahl sein. Deshalb muß das Zeugnis objektiv richtig sein, zugleich aber auch die subjektiv eingefärbte Leistungsbeurteilung des Arbeitgebers enthalten.

    Damit das
    Zeugnis als Bewerbungs- und Beurteilungsgrundlage einen Wert hat, muß der Arbeitgeber auch wohlwollend gegenüber dem Mitarbeiter formulieren ohne versteckte Spitzen. Daraus ergeben sich als inhaltliche
    Anforderungen das Gebot der Zeugniswahrheit und des Wohlwollens. Es gilt aber auch der Grundsatz der Zeugnisklarheit, um nicht beim neuen Arbeitgeber Verwirrung zu stiften, der dann das Zeugnis und die Bewerbung
    in den Papierkorb wandern läßt.


3. Gesetzliche Vorgaben

    In § 109 Abs. 2 und 3 Gewerbeordnung hat der Gesetzgeber einige wenige Vorgaben gemacht.

    Danach muß das Zeugnis klar und verständlich formuliert sein. Es muß aus sich heraus
    verständlich sein. Es darf keine Merkmale oder Formulierungen enthalten, die den Zweck haben, eine andere Aussage zu treffen, als der äußeren Form oder aus dem Wortlaut ersichtlich ist.

    Das Zeugnis muß
    schriftlich sein. Die elektronische Form ist ausgeschlossen. Im übrigen ist aber der Arbeitgeber frei in der Formulierung des Zeugnisses und in der Wahl des Beurteilungssystems. Leichtmatrose Odysseus hat keinen
    Anspruch darauf, dem Arbeitgeber bestimmte Formulierungen im Zeugnis vorzuschreiben.


4. Schlußnote

    Die Mitarbeiter Herkules und Odysseus haben richtig erkannt, daß die Schlußnote eines Zeugnisses eine wichtige Rolle spielt. Gerade in Zeiten der Arbeitslosigkeit liegen Arbeitgebern oft
    eine Fülle von Bewerbungen und Zeugnissen vor. Aus Zeitmangel wird das Zeugnis oft nur diagonal gelesen oder überflogen. Das Augenmerk richtet sich deshalb oft auf die Schlußnote und auf ungewöhnliche oder
    herausragende Formulierungen negativer oder positiver Art.

    Es ist Sache des Arbeitgebers, welche Beruteilungssysteme er wählt und welche Art von Schlußnote. Je klarer die Benotung ist, um so besser ist das
    Zeugnis zu verstehen. Leider wird in den allermeisten Fällen zur Benotung die „Zufriedenheitsskala“ benutzt, deren Notenklarheit zu wünschen übrig läßt (zur Zufriedenheit, zur vollen Zufriedenheit, stets zur
    vollen Zufriedenheit, zur vollsten Zufriedenheit, stets zur vollsten Zufriedenheit).

Textübernahmen aus den Arbeitsrechtsfolgen von Hans Gottlob Rühle:
Reine
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