Folge 40

Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte bei Kündigung in Kleinbetrieben

In Kleinbetrieben gilt das Kündigungsschutzgesetz grundsätzlich nicht. Gleichwohl ist auch hier nach neuesten Rechtserkenntnissen die unternehmerische Freiheit des Arbeitgebers
eingeschränkt. Das Grundgesetz mit seiner Sozialstaatsklausel fordert eine soziale Rücksichtnahme.


Der Fall:

    Arbeitgeber Hirsch ist Inhaber einer Kfz-Lackiererei. Er beschäftigt dort 5 Arbeitnehmer.

    Der Lackierer Gams ist seit 1980 beschäftigt. Neben Gams sind noch 4 andere, deutlich jüngere
    Lackierer angestellt. Die Beschäftigungszeit der anderen beträgt 3-5 Jahre. Unter diesen 4 Lackierern beschäftigt Hirsch auch seit 3 Jahren seinen ledigen Sohn Murmel und seit 1993 den ledigen Lackierer Ochs.
    Dieser ist 38 Jahre alt.

    Wegen Arbeitsmangel muß ein Lackierer gehen. Arbeitgeber Hirsch kündigt den 52 Jahre alten Gams zum 30.9.2001.

    Lackierer Gams hält die Kündigung für unwirksam. Er meint, daß unter
    Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte, Arbeitgeber Hirsch nicht ihm hätte als erstem kündigen dürfen. Vielmehr hätte er einem anderen Arbeitnehmer, z.B. dem Sohn Murmel oder dem Lackierer Ochs zunächst
    kündigen müssen. Hirsch teilt diese Ansicht nicht. Er beruft sich auf die unternehmerische Freiheit. Die Kündigung sei aus wirtschaftlichen Gründen ausgesprochen worden, um eine effektive Fortführung des
    Betriebes zu gewährleisten. Bei der Auswahl des Klägers hätte auch eine Rolle gespielt, daß der Kläger durch seine lange Beschäftigungszeit teurer als die erst kurz beschäftigten Arbeitnehmer sei. Außerdem sei
    er aufgrund seines Lebensalters nicht mehr so leistungsfähig.


Die Lösung:


1. Kein Kündigungsschutzgesetz

    Im Betrieb des Arbeitgebers Hirsch gilt das Kündigungsschutzgesetz nicht. § 23 Abs. 1 fordert nämlich für die Geltung des Kündigungsschutzgesetzes die Beschäftigung von mehr als 5
    Arbeitnehmern. Diese Voraussetzung liegt nicht vor, da Hirsch nur insgesamt 5 Arbeiter beschäftigt.


2. Pflicht zur sozialen Rücksichtnahme

    Auch wenn im Kleinbetrieb bis einschließlich 5 Arbeitnehmer das Kündigungsschutzgesetz keine Anwendung findet, so muß nach der neuen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes
    aufgrund der Regel des Art. 12 Grundgesetz bei Kündigungen vom Arbeitgeber Hirsch ein Mindestmaß an “sozialer Rücksichtnahme” gewahrt werden.

    Aufgrund eines Vorlagebeschlusses des Arbeitsgerichts Reutlingen
    war strittig, ob die Ausklammerung der Kleinbetriebe aus dem gesetzlichen Kündigungsschutz verfassungswidrig ist. Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsgemäßheit des § 23 Abs. 1 KSchG bejaht. Es hat
    aber ausgeführt, daß diese Herausnahme der Kleinbetriebe aus dem gesetzlichen Kündigungsschutz nur unter der Bedingung als verfassungsgemäß angesehen werden kann, daß auch in Kleinbetrieben bei der Kündigung ein
    “Mindestmaß an sozialer Rücksichtnahme” von seiten des Arbeitgebers gewahrt wird.

    Eine Kündigung, die diesen Anforderungen der sozialen Rücksichtnahme nicht entspricht, verstößt gegen Treu und Glauben (§ 242
    BGB) und ist deshalb rechtsunwirksam.


3. Sozialdatenvergleich

    Die verfassungsrechtlich begründete Pflicht des Arbeitgebers Hirsch zur sozialen Rücksichtnahme im Kleinbetrieb verlangt, daß Arbeitgeber Hirsch zunächst einen Sozialdatenvergleich
    anstellen muß.

    Bei den zu berücksichtigenden Sozialdaten handelt es sich – wie bei der Sozialauswahl im Kündigungsschutz – insbesondere um den Vergleich des

    Lebensalters des Arbeitnehmers,

    der Beschäftigungsdauer,

    der Unterhaltsverpflichtungen,

    anderer Sozialdaten, wie Schwerbehinderung.

    Wird bei einem Vergleich der vom Arbeitgeber zu berücksichtigenden Sozialdaten offenkundig, daß ein erheblich sozial schutzbedürftigerer Arbeitnehmer gekündigt ist gegenüber den im
    Betrieb verbleibenden Arbeitnehmern, so spricht dies zunächst dafür, daß der Arbeitgeber gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) verstoßen hat. Die Kündigung wäre dann auch im Kleinbetrieb unwirksam.


4. Weitere Kündigungsgründe

    Der Arbeitgeber hat allerdings das Recht, weitere Gründe vorzutragen, die ihn neben der Sozialauswahl zu der ausgesprochenen Kündigung bewogen haben. Dabei kann es sich um Gründe aus dem
    betrieblichen Bereich, aber auch aus dem Bereich des Verhaltens oder der Person des Arbeitnehmers handeln.

    Solche Gründe können z.B. sein:

    mangelnde Flexibilität des Gekündigten,

    nur beschränkte Einsetzbarkeit im Betrieb,

    mangelnde Qualifikation,

    erhebliche Schlechtleistungen in der Vergangenheit,

    wiederholte Vertragsverstöße,

    erhebliche Krankheitszeiten, etc.


5. Gesamtabwägung

    Trägt Arbeitgeber Hirsch weitere Gründe für die Kündigung des Altarbeitnehmers Gams vor, so ist eine Gesamtabwägung der verschiedenen Gründe vorzunehmen.

    Im Falle des Lackierers Gams
    ist klar, daß die Sozialdaten von Gams zeigen, daß dieser erheblich sozial schutzbedürftiger ist, als z.B. die Lackierer Ochs oder Murmel. Dies spricht für eine Treuewidrigkeit und Unwirksamkeit der Kündigung.

    Arbeitgeber Hirsch hat weiter angeführt, daß Gams zu alt und zu teuer sei. Diese zusätzlichen Argumente vermögen jedoch die Treuewidrigkeit der Kündigung nicht aufzuheben. Das höhere Lohnniveau von Gams wird
    durch die lange Betriebszugehörigkeit von Gams ausgelöst sein. Auch das fortgeschrittene Alter ist kein Grund zur Kündigung.

    Achtung: Anders könnte die Beurteilung sein, wenn Hirsch nachweist, daß es ihm
    wirtschaftlich schlecht geht und er deshalb das Lohnniveau absenken muß.

    Insgesamt ist deshalb die Kündigung des Lackierers Gams wegen Verstoßes gegen Treu und Glauben rechtsunwirksam. Arbeitgeber Hirsch hat
    es an dem gebotenen Mindestmaß zur sozialen Rücksichtnahme fehlen lassen.


6. Unternehmerische Freiheit

    Bei der Gesamtabwägung muß die unternehmerische Freiheit des Arbeitgebers stets ausreichend berücksichtigt werden. Der Gesetzgeber hat mit der Herausnahme der Kleinbetriebe aus dem
    gesetzlichen Kündigungsschutz diese unternehmerische Freiheit betont. Allerdings ist die unternehmerische Freiheit aus verfassungsrechtlichen Grundsätzen, d.h. nach Art. 12 Grundgesetz einerseits und dem
    Sozialstaatsprinzip andererseits, nicht uneingeschränkt vorhanden. Dies hat Arbeitgeber Hirsch übersehen. Er hätte nicht unbedingt seinem Sohn kündigen müssen, wenn dieser das Geschäft weiterführen soll. Dies
    wäre ein ausreichender sachlicher Grund. Daneben sind aber noch der Arbeiter Ochs und 2 weitere Lackierer beschäftigt, die erst kurzzeitig tätig sind und deutlich jünger als der gekündigte Lackierer Gams.

    Lackierer Gams darf also bleiben. Wenn Arbeitgeber wegen Arbeitsrückgang aus wirtschaftlichen Gründen eine Stelle räumen muß, so muß er einen anderen Arbeitnehmer kündigen.


7. Checkliste

  • Gilt das Kündigungsschutzgesetz?
  • Mehr als 5 Arbeitnehmer?
  • Wenn Nein: Unternehmerische Freiheit. Auch bei der Kündigungs-Auswahl.
  • Aber: Pflicht zur sozialen Rücksichtnahme (Bundesverfassungsgericht)
  • Folge: Sozialdatenvergleich
  • Abwägung der Sozialdaten mit sachlichen betrieblichen Gründen
  • Fehlen betrieblicher Gründe: Kündigung kann gegen Treu und Glauben verstoßen

Textübernahmen aus den Arbeitsrechtsfolgen von Hans Gottlob Rühle:
Reine
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